Alasea 03 - Das Buch der Rache
spüren. »Und mein Bruder?« fragte sie ängstlich über den Becherrand hinweg.
»Wir haben alle aus dem Meer gefischt, außer…«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.
»Herein!« rief die alte Frau.
Ein bekanntes Gesicht betrat den Raum. Die schlaksige Gestalt, die Hakennase und auch wenn die Haare nur noch silberne Stoppel waren, Elena würde den Elv’en Merik niemals verkennen. »Ich habe hier einen Topf mit heißem Wasser…«, fing er an. Dann wurden seine Augen groß, als er Elena sah. »Du bist aufgewacht!« rief er erfreut. Solche Gefühlsausbrüche kamen bei dem hochmütigen Burschen wirklich selten vor, und Elena bemerkte, dass er einen Stock brauchte, um über die Planken zu ihnen humpeln zu können. »Du hast Mama Freda bereits kennen gelernt«, sagte er, als er den Fuß des Bettes erreicht hatte. »Ohne ihre Heilkräfte wären wir alle nicht mehr hier.«
»Was ist mit dir geschehen?« fragte Elena und sah jetzt erst die verheilten Narben auf dem Gesicht des Elv’en.
Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber Mama Freda kam ihm zuvor. »Zeit, um eure Geschichten auszutauschen, habt ihr später noch. Jetzt möchte ich, dass das Kind aufsteht und sich bewegt. Sie hat fast einen ganzen Tag lang im Bett gelegen. Und ich denke, ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft wird ihren Lungen gut tun.«
Merik nickte zustimmend, bewegte sich jedoch nicht. Noch immer starrte er Elena unverwandt an.
Mama Freda stieß einen Seufzer aus. »Könnten wir nun wohl ein wenig Privatsphäre haben, der Herr?«
Der Blick des Elv’en kam zurück in die Wirklichkeit. »Natürlich …Tut mir Leid…«, stammelte er und richtete sich auf. »Es ist nur, weil sie sich so verändert hat. Flint hat uns schon gewarnt aber jetzt, da sie wach ist… Es ist einfach… unfassbar.«
Mama Freda scheuchte ihn davon. »Lass sie in Frieden ihre Medizin schlucken.«
Merik warf Elena noch einen letzten Blick zu, bevor er den Raum verließ. »Sie könnte das erste Kind des alten Königs Dresdin sein«, murmelte er im Gehen. »Die Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf den alten Wandteppichen ist verblüffend.«
Als der Elv’e gegangen war, holte Mama Freda einen dicken Morgenrock aus der Seekiste. »Wenn du den Kräutertrank ausgetrunken hast, werde ich dich nach oben bringen.«
Elena nickte. Langsam nippte sie an dem Elixier. Das Zimtaroma konnte den bitteren Medizingeschmack nicht vollkommen überdecken. Doch das Getränk war heiß und linderte die Schmerzen im rauen Hals. Als sie die Augen schloss und den Dampf in ihre wunden Lungen einatmete, versuchte sie, nicht an Er’ril zu denken und an das, was sie unter Deck der verseuchten Skipperjan entdeckt hatte. Die Erinnerung war zu schmerzhaft, und kein Elixier dieser Welt konnte diese Qualen lindern.
»Geht es dir nicht gut?« fragte Mama Freda. »Ist die Medizin zu heiß?«
Elena öffnete die Augen und musste feststellen, dass Tränen ihre Sicht trübten. »Nein, der Kräutertee ist gut«, murmelte sie. Wie hatte die augenlose Frau die wenigen Tränen bemerken können? Aber Elena mochte sich jetzt nicht mit solchen Rätseln beschäftigen, also seufzte sie und trank den letzten Rest aus dem Humpen. »Fertig«, hatte sie kaum gesagt, als die Heilerin schon nach dem leeren Gefäß griff.
»Dann lass uns an die frische Luft gehen.« Mama Freda half ihr aufzustehen und legte ihr den Morgenrock über die Schultern. Die alte Frau umarmte sie kurz und flüsterte ihr ins Ohr: »Manche Wunden vermag nur die Zeit zu heilen.«
Elena wusste, dass die Frau den Kummer in ihrem Herzen erahnte. Sie erwiderte die Umarmung. »Ich hoffe, du hast Recht«, flüsterte sie.
Mama Freda berührte Elenas Wange mit ihrer warmen Hand, dann drehte sie sich um und führte sie aus dem Raum. Tikal saß dabei auf der Schulter der Heilerin. Elena war froh, dass der Stock der alten Frau ein zu schnelles Gehen verhinderte. Ihre Gliedmaßen fühlten sich an wie die eines Neugeborenen, wackelig und schwach. Glücklicherweise hatten sie es nicht weit, nur einen kurzen Gang entlang und eine unglaublich steile Treppe hinauf.
Mama Freda hielt die Luke zum Deck auf und half Elena hinauf in die saubere, frische Luft des frühen Vormittags. Die kühle Brise fühlte sich wie Eis in Elenas Lungen an. Sie blieb stehen, hustete ein wenig und saugte das helle Sonnenlicht und den sanften Wind in sich auf. Sie fühlte, wie die Kraft in ihre Glieder zurückkehrte.
»Du siehst schon viel besser aus«, meinte eine raue,
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