Alasea 03 - Das Buch der Rache
Sturmhaven, vor seinem innerem Auge auf. Diese zärtlichen Erinnerungen lenkten Merik von den Kriegen und Schlachten der Gegenwart ab.
Da störten Schritte draußen auf dem Flur seine Träumerei. Die Finger des Elv’en hielten inne. Leise schlich er vom Bett zur Tür, die Laute wie ein Schwert vor sich ausgestreckt. Er horchte einen Moment lang, doch kein Laut drang von draußen herein, obwohl er genau spürte, dass jemand vor der Tür stand.
Er schob den Riegel zurück und riss die Tür auf, um draußen auf dem Gang einen kleinen Jungen in der Ecke kauernd vorzufinden. Merik ließ die Laute sinken. Es dauerte einige Augenblicke, bis er das völlig verängstigte Kind erkannte. Es war Tok. »Junge, warum schleichst du vor meiner Tür herum? Hat man dich nicht auf einen der Leviathane geschickt, damit du dort sicher bist?«
»Ich… ich habe mich versteckt«, antwortete er verlegen. »Bei den Pferden.«
Merik blickte das Kind streng an. »Keine sehr weise Entscheidung, Junge. Bei den Mer’ai unter Wasser wärst du besser aufgehoben gewesen.«
»Ich wollte nicht mit diesen anderen Leuten gehen. Ihr seid… ihr seid die einzigen Menschen, die ich auf dieser Welt habe.«
Merik schüttelte den Kopf. »Aber warum hast du dich da draußen im Flur verkrochen?«
»Die… die Musik.« Tok deutete auf die Laute, die Merik in der Hand hielt. »Ich wollte sie deutlicher hören können. Es geht mir besser, wenn ich die Musik höre.«
Merik erinnerte sich, dass Tok in der Vergangenheit stets neben ihm am Boden gehockt hatte, wenn er die Laute gespielt hatte. Der Junge war von den Liedern immer völlig bezaubert gewesen. Merik setzte sich zurück aufs Bett und legte sich die Laute zurecht. »Erinnert dich die Musik an deine Heimat?«
Tok zuckte mit den Schultern. »Ich habe nie eine Heimat gekannt.«
Merik runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, du hast nie eine Heimat gekannt?«
Tok trat im Türrahmen von einem Fuß auf den anderen. Offenbar war er sich nicht schlüssig, ob er nun eintreten durfte oder nicht. »Ich wurde auf den Straßen von Port Raul zum Waisenkind. Also habe ich auf dem Schiff angeheuert, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Meer ist meine Heimat.«
Merik verglich die Geschichte mit seiner eigenen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es wohl war, seine Vergangenheit nicht zu kennen oder keinen Ort seine Heimat nennen zu können. Schließlich winkte er den Jungen zu der Seekiste neben dem schmalen Bett. »Setz dich.«
Toks Schultern sackten vor Erleichterung herunter. Er huschte zur Kiste und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen. Als er den Sonnenfalken neben dem Bett sitzen sah, wurden seine Augen riesengroß. Aber der Blick des Jungen kehrte rasch zu der Laute zurück und schien Merik fast anzuflehen.
»Was hörst du in der Musik der Laute? Warum zieht sie dich derart an?«
Diese Frage bereitete dem Jungen sichtlich Unbehagen. Als Antwort kam ihm nur ein Flüstern über die Lippen. »Sie… sie gibt mir… Wärme.« Er legte die Hand auf die Brust. »Da drin. Es ist… als würde sie mich an einen Ort führen, wo niemand mich auslacht oder versucht, mich zu schlagen. Ich schließe die Augen, und in meinem Bauch habe ich das Gefühl… das Gefühl, dass ich endlich irgendwohin gehöre.« Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen.
Merik ließ den Blick auf die Laute in seinem Schoß sinken. Es fiel ihm schwer, dem Jungen in die Augen zu sehen.
»B bitte spiel etwas für mich«, bat Tok mit fast hoffnungsloser Miene. »Ganz kurz.«
Merik saß einige Atemzüge lang regungslos da. Dann gab er dem Jungen die Laute. »Es wird Zeit, dass du selbst einmal spielst, Tok.«
Der Junge hielt das Instrument auf Armeslänge von sich, als hätte er eine giftige Schlange in Händen. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Das… das kann ich nicht!«
»Leg dir die Laute einfach auf die Knie. Du hast mir oft genug zugesehen.«
Tok schluckte also den Schrecken hinunter und tat, wie ihm geheißen.
»Jetzt leg die linke Hand an den Hals des Instruments. Wohin du die Finger legst, ist unwichtig. Dann streife mit den Nägeln der anderen Hand über die Saiten.«
Toks Finger zitterten, aber er gehorchte. Er behandelte die Laute mit einer Ehrfurcht, die an Anbetung grenzte. Als seine Finger die Saiten zum ersten Mal berührten, ließ der Klang ihn zusammenzucken. Der Akkord schwebte in der Luft wie ein aufgeschreckter Spatz. Ni’lahns Laute sprach vielmehr in ihrer eigenen Sprache, als
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