Alasea 03 - Das Buch der Rache
letzten sechzehn Winter über dem Thron seiner Mutter in Sturmhaven gesessen.
Merik zog ein Stück getrocknetes Rindfleisch aus seiner Tasche und bot den Happen dem Vogel an. Der Falke neigte den Kopf zur Seite, um den Fleischstreifen zu beäugen, aber dann schüttelte er die Federn und lehnte das Angebot mit einem schnöden Wegdrehen des hakenförmigen Schnabels ab. Merik runzelte die Stirn über diese Beleidigung, doch eigentlich hätte er es wissen müssen. Der Vogel mochte sein Fleisch frisch und blutig, und nicht hart und gesalzen. Also aß Merik es selbst und ging zu der kleinen Kiste, die am Fuß seines Bettes stand.
Er wollte ein paar Augenblicke allein sein, um sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Seine Hand fuhr über die Narben auf seinem Gesicht. Die Erinnerung an die Qualen drohte ihm die Kraft zu rauben, aber er focht diese Gefühle zurück und richtete sich auf.
Er würde seine Königin nicht enttäuschen. Man hatte ihn ausgeschickt, damit er die verlorenen Nachkommen des Elv’en Königs wieder fand, und das musste ihm gelingen. Er wollte Elena wenn notwendig mit seinem eigenen Blut beschützen. Merik beschwor ihr Bild vor seinem geistigen Auge herauf. Jetzt, da sie durch ihre Magik zu einer erwachsenen Frau geworden war, konnte man ihre zarten Elv’en Züge deutlich erkennen: die große, schlanke Gestalt, das leicht geschwungene Ohr, die spitzen Augenwinkel. Es gab keinen Zweifel, sie gehörte zu seiner Familie.
Dennoch musste Merik zugeben, dass seine Sorge um Elena mehr beinhaltete als nur den Wunsch, des Königs Blutlinie fortzuführen. Er befühlte noch einmal die Narben auf seiner Wange. Er hatte das Abscheuliche, das dieses Land besetzte, mit eigenen Augen gesehen und wusste, dass Elena und die anderen für eine gerechte und edle Sache fochten. Auf der langen Reise, die sie hierher geführt hatte, hatte Elena bewiesen, dass ihr Herz so edel war wie ihre Abstammung, und Merik wollte auch sie nicht enttäuschen. Glücklicherweise hatte er den beiden Frauen, die in seinem Leben von Bedeutung waren seiner Königin und der Hexe , als Beschützer immer gleichzeitig dienen können. Elena musste behütet werden, nicht nur, um die Nachkommenschaft seines Königs zu sichern, sondern auch, um diesem Land Hoffnung zu geben.
Aber während Merik den starrsinnigen Sonnenfalken beobachtete, das Symbol seiner Königin, fragte er sich, ob auch in Zukunft die Ziele dieser beiden Frauen auf einer Linie liegen würden. Und falls sie voneinander abwichen, welchen Weg sollte Merik dann einschlagen?
Seufzend ließ der Elv’e diese Sache einstweilen auf sich beruhen. Aus der Seekiste am Fuß seines Bettes holte er einen kleinen Stein heraus. Er rieb die kalte Oberfläche des Steins, hob ihn an die Lippen und blies ihn an. Daraufhin glühte im Innern des Steines etwas auf. Zufrieden legte Merik den Windstein auf sein Bett und holte einen weiteren Gegenstand aus der Kiste. Es war ein langer, dünner Dolch. Mit dem Finger fuhr er die Klinge nach, und seine Berührung entfachte ein Knistern der silbernen Energien, die die Klinge beherbergte. Wie der Sonnenfalke gehörte auch der Eisdolch zu seinem Familienerbe. Es handelte sich bei der Klinge eher um eine Reliquie als um eine echte Waffe, aber sie würde ihm auf der bevorstehenden Reise als solche dienen müssen. Er legte den Eisdolch neben den Stein. Schließlich griff er nach dem dritten und letzten Gegenstand in der Truhe und hob ihn mit beiden Händen vorsichtig heraus. Dies war der eigentliche Grund, warum er für ein paar Augenblicke der Ruhe in seine Kabine zurückgekommen war.
Er legte sich Ni’lahns Laute auf die Knie. Dann betrachtete er die vielen Wirbel in der Maserung des Holzes. Das Instrument war aus dem Herzen des letzten Nyphai Baumes geschnitzt worden, nachdem dieser gestorben war. Behutsam ließ er die Finger über die Saiten der Laute gleiten. Es klang wie ein sanftes Seufzen, ein flüsternder Atemzug der Erleichterung, weil sie endlich wieder sprechen konnte. Merik gab sich der Verlockung hin und spielte ein paar einfache Akkorde. Er spielte sehr leise, um sein Herz gegen den bevorstehenden Kampf zu wappnen.
Während er sich von der Stimme der Laute verzaubern ließ, kehrten seine Gedanken zu Elenas schwieriger Lage zurück. Wofür kämpften sie eigentlich? Für die Freiheit, wie Joach immer behauptete? Oder vielleicht doch für etwas Greifbareres? Durch die Musik stiegen Bilder aus Meriks Heimat, dem Wolkenschloss von
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