Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
niederzulassen.
Der war noch so verstört, dass er ohne Widerrede gehorchte. Dann stellte er die Frage, die ihn am meisten beschäftigte: »Warum hast du mir das gezeigt?«
Der Schamane schloss die Augen, nahm zwei Hände voll Sand, hob die Arme und warf die leuchtenden Körner über sich und Joach in die Luft. Als der Sand den Boden berührte, kehrte die reale Welt zurück, als würde ein Vorhang heruntergelassen. Bäume und Zelte tauchten auf. Hinter dem Schamanen spiegelten sich die Sterne im Teich von Oo’schal.
Parthus schlug die Augen auf. Jetzt erkannte Joach das Licht der Traumwüste darin. Der Schamane hatte sich sein Leben lang durch die Traumlandschaften bewegt und war ganz und gar von ihrer Magik durchdrungen.
»Warum ich dir das offenbart habe?« wiederholte der Alte. »Warum gerade dir?«
»J ja.«
»Weil du stark bist, aber das ganze Ausmaß deiner Stärke noch nicht kennst.«
Joach sah ihn fragend an.
»Du bist kein gewöhnlicher Traumweber, kein bloßer Traumprophet. Hat dir noch niemand erklärt, wie unendlich tief deine Traumkräfte reichen?«
Joach fiel wieder ein, was Bruder Flint vor langer Zeit festgestellt hatte. Der alte Ordensbruder hatte erklärt, Joach sei eine der stärksten Elementarbegabungen auf dem Gebiet des Traumwebens. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht, inwiefern das von Bedeutung ist.«
»Die meisten Traumweber sind nur Zuschauer, sie lesen die Zeichen an der Wand und beobachten das Geschehen aus der Ferne. Aber du, Joach, hast die Gabe, sehr viel mehr zu tun. Für dich ist das Land der Träume wie eine Leinwand. Du brauchst dich nicht mit der Rolle des Beobachters zu begnügen, du kannst tatkräftig eingreifen. Du kannst als Traumbildner tätig werden, denn du hast die Fähigkeit, Elemente aus dem Traumland zu gestalten und sie in die wirkliche Welt zu holen.«
Joach prustete verächtlich. »So etwas habe ich noch nie gehört.«
»Weil du seit zahllosen Generationen der erste Bildner bist. Man glaubte die Kunst schon für alle Zeit verloren. Aber bei uns Wüstenschamanen ist sie nie in Vergessenheit geraten. Sie ist eingebrannt in unsere geheime Geschichte.«
»Das verstehe ich nicht. Was für eine Geschichte?«
Parthus seufzte. »Die Geschichte von Tular.«
Joach erschrak. Vor seinem inneren Auge tauchte wieder der schwarze Strudel auf. »Tular?«
»Vor langer Zeit, als der Südwall noch neu war, lockte das Land bestimmte Wüstenbewohner zu der großen Sandsteinwand. Es brachte die Burg Tular hervor, ließ diese auserwählten Hüter darin wohnen und stattete sie mit einem Teil der Traumkräfte aus, die die Wüste in sich birgt. Sie herrschten gerecht und in Ehren über die Südlichen Ödlande. In dieser Epoche blühte die Wüste auf, und die Zahl der Stämme wuchs. Es war eine glückliche Zeit.«
»Und was geschah dann?«
Das Gesicht des Schamanen verfinsterte sich. »Allmählich wurden die Führer von Tular durch die Macht verdorben. Aus den Hütern wurden Ghule. Sie lernten, Dämonen und andere Ungeheuer aus dem Traumland in diese Welt zu holen, um die Bewohner der Ödlande einzuschüchtern und zu unterdrücken. Eines der grausigsten Geschöpfe war der große Basilisk, eine gefiederte Echse, die unersättlich war in ihrer Blutgier. Jahrhundertelang regierten die Ghule von Tular mit eiserner Faust. Doch eines Tages kam uns die Hexe von Geist und Stein zu Hilfe.«
»Svesa’kofa?«
Parthus nickte. »Sie sammelte unser Volk und schuf mit ihrem eigenen Blut Waffen, mit denen man die Traumungeheuer töten konnte. Die Ghule wurden aus ihrem warmen Nest vertrieben, die missgestalteten Ungeheuer vernichtet. Tular blieb leer und verlassen zurück. Doch mit der Burg ging auch die Magik des Traumbildens verloren.« Der Schamane sah Joach von der Seite an. »Jedenfalls bis heute.«
Joach fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Wie kannst du so sicher sein, dass ich diese Gabe besitze?«
Der Schamane sah ihn lange an. »Ich weiß nicht, ob du für die Antwort schon bereit bist. Kannst du mir nicht einfach glauben?«
Joachs Blick wurde misstrauisch. »Ich möchte wissen, was dich zu dieser Vermutung gebracht hat.«
»Es ist keine Vermutung ich weiß es.«
»Was macht dich so sicher?«
»Dass Kesla dich gefunden und mit hierher gebracht hat.«
Joach winkte ab. »Sie hat mich nur deshalb gefunden, weil sie den Auftrag hatte, den Nachtglasdolch mit dem Blut meiner Schwester zu benetzen. Das war alles.«
Parthus runzelte die Stirn.
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