Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
umsonst gewesen sein möge.
Kral hing nackt in seinen Ketten, blind für alles, was um ihn herum geschah, taub für die gebrüllten Befehle. Tief in seinem Inneren wusste er, dass sich die Zwerge zum letzten Sturm auf seine alten Gefährten formierten. Aber das berührte ihn nicht mehr. Er hatte jede Hoffnung aufgegeben, die Heimat seiner Vorfahren von der Verderbnis zu befreien.
Doch dann durchdrang langsam ein Energiestrahl den Nebel, ein Funke setzte den Zunder der Verzweiflung in Brand. Kral kannte dieses Gefühl. Knurrend kam er auf die Beine und tastete mit allen Sinnen nach seiner Axt.
Ja!
Er spürte den Quell der Macht, die neue Haut, die der Bestie in ihm Gestalt verlieh. Er griff auf die dunkle Magik zu und erkannte sofort, was für eine Haut dem Feuer Nahrung gab. Si’lura … ein Gestaltwandler. Er warf einen Blick durch den Saal und sah, dass seine Gefährten dicht beisammen standen. Tyrus hielt seine Axt in der Hand und erwiderte seinen Blick. In den Augen des Prinzen glänzten Tränen.
»Mikela«, murmelte Kral. Er hatte verstanden.
Er betrachtete die Eisen, die ihm Hände und Füße fesselten. Sein Fleisch zerfloss, er stieg heraus. Die Ketten fielen klirrend ab.
Der Lärm erregte die Aufmerksamkeit des Zwergenkönigs, der vor dem silbergrauen Granitthron stand. Seine Augen wurden groß, als Kral ohne Fesseln auf ihn zukam.
»Jetzt hole ich mir meinen Thron zurück«, erklärte der Gebirgler kalt und befahl seinem Körper, die Gestalt eines Schneeleoparden anzunehmen. Schon breitete sich das Fell in einer kribbelnden Welle über seinen ganzen Körper aus, Krallen sprießten ihm aus den Fingerspitzen, seine Wunden heilten, und die Muskeln verteilten sich um. Der schlanke, kraftvolle Körper einer Raubkatze war entstanden. Er hatte diese Gestalt zu Ehren Mikelas gewählt. Sie war eine Dro gewesen, und der Schneeleopard war das Wappentier der Dro. Nun sollte die Bergkatze aus dem hohen Norden das Böse von diesem Ort vertreiben. Was konnte angemessener sein?
Bevor die Leibgarde des Königs reagieren konnte, stürzte er sich auf den alten Zwerg und biss ihm den abwehrend erhobenen Arm ab. Der Zwerg schrie laut auf vor Schreck und Schmerz und fiel auf den Eisthron zurück. »Nein! Wir dienen doch beide demselben Herrn!«
Kral zog die Lefzen zurück und fletschte grinsend die langen Raubtierzähne.
»Nein!« schrie der König wieder.
Kral brüllte, dass es durch den ganzen Saal schallte, machte einen zweiten Satz, landete auf dem Zwerg und schlug ihm die Krallen ins Fleisch. Der König duckte sich. Kral witterte seine Angst und spürte den zittrigen Schlag der beiden Herzen.
»Bitte …«
Mit siegessicherem Fauchen riss Kral dem Zwergenkönig die Kehle auf. Heiß spritzte das Blut über den hellen Granit. Er schmeckte es auf der Zunge. Die Beute röchelte noch ein paar Mal, dann erlosch das Lebenslicht in ihren Augen.
Voller Genugtuung stieß Kral den Leichnam beiseite und hockte sich mit blutiger Schnauze auf den Thron. Er warf einen Blick durch den Saal und verkündete mit lautem Gebrüll, dass er den Eisthron in Besitz genommen hatte.
Die noch verbliebenen Zwerge erstarrten vor Schreck, und im nächsten Augenblick flüchteten viele in heller Verzweiflung über den Verlust ihres Königs kopflos aus dem Saal. Andere, zumeist Angehörige der Leibgarde, sannen auf blutige Rache und wollten den Thron stürmen.
Kral kam ihnen zuvor und sprang mit einem Satz mitten zwischen sie. Die Fähigkeiten der Si’lura erlaubten es ihm, fließend von Gestalt zu Gestalt zu wechseln, während er sich durch die Äxte und Schwerter kämpfte. Eine blutige Spur von zuckenden Körpern blieb hinter ihm zurück. Er begnügte sich nicht länger damit, nur die anzugreifen, die ihn bedrohten, sondern raste von einem Ende des Saales zum anderen, stürzte sich auch auf flüchtende Zwerge, biss ihnen die Kniesehnen durch und kam wieder zurück, um sich an ihren Herzen gütlich zu tun.
Bald schwamm der Granitboden im Blut. Nichts regte sich mehr. Nur die Bestie stolzierte zwischen den Toten um die kleine Insel von Lebenden herum, die von einem Windwirbel geschützt wurden. Kral hob die Schnauze und schnupperte. Nicht einmal seine feine Nase konnte den Wirbel durchdringen.
Tief geduckt schlich er sich an die Windmauer heran. Ein leises Knurren löste sich aus seiner Kehle.
Sobald er näher kam, legte sich der Wind. Tyrus stand vor ihm, der Prinz von Mryl, flankiert von Merik auf der einen und Ni’lahn auf der
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