Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
befreien.«
Allmählich dämmerte auch Merik, worum es ging. Sein Entsetzen wuchs. Er hatte mit angehört, wie der Zwergenkönig Kral als Bösewächter entlarvte. Der Gebirgler stand unter dem Einfluss einer schwarzen Magik, die es ihm erlaubte, die Gestalt jedes Tieres anzunehmen, dessen Fell er um seine Axt wickelte. Mikela gedachte nun mithilfe ihrer eigenen Haut die Gabe der Si’lura, der Gestaltwandler, auf Kral zu übertragen.
»Aber er ist ein Bösewächter«, wandte Tyrus ein.
»Was die Zwerge hier tun, ist ihm ebenso verhasst wie uns«, sagte Merik, dem jetzt sonnenklar war, was Mikela bezweckte. »Wenn ihr ihn befreit, wird er alles vernichten, was sich ihm in den Weg stellt.«
»Uns eingeschlossen«, sagte Tyrus.
Mikela winkte den Prinzen zu sich. Er legte sein Ohr an ihren Mund, und als er sich aufrichtete, war er bleich geworden.
»Was hat sie gesagt?« fragte Mogwied von der anderen Seite her. Er hielt immer noch eines von Mikelas Schwertern umklammert.
»Sie hat mich an die Prophezeiung erinnert«, sagte Tyrus. »›Diejenige, die ihr Blut gibt, um die Westlichen Marken zu retten…‹«
»Was soll das heißen?« fragte Merik.
»So habe ich meinen Vater zitiert, damals in Port Raul. Mein Vater hatte mich dorthin entsandt. Ich sollte euch alle sammeln: drei Gestaltwandler und eine Frau, die eine Dro war und doch keine Dro.«
»Mikela«, murmelte Merik.
Tyrus nahm die Hand der Gestaltwandlerin. »Mein Vater sagte, ihr Blut wäre der Schlüssel zur Rettung des Landes vor der Verderbnis. Nun will sie dafür sorgen, dass die Weissagung sich erfüllt.«
Alle verstummten.
Tyrus streckte die Hand aus. Ni’lahn verstand, was er wollte, und gab ihm den Dolch.
Er beugte sich über Mikela. »Es war die Prophezeiung meines Vaters.« Mikela seufzte. Endlich hatte man sie verstanden.
Als ihre Kehle sich mit Blut füllte, schloss sie die Augen und wappnete sich gegen den Schmerz. Jetzt war es bald vorüber. In ihren letzten Augenblicken betete sie um Vergebung. Sie hatte im Namen Alaseas so viele Leben zerstört. Die Gesichter der vielen hundert Elementarmagiker, die sie einige mit ihrer Einwilligung, andere ohne ihr Wissen getötet hatte, zogen vor ihrem geistigen Auge vorüber: Kinder, Frauen, Greise. So viele. Tränen strömten ihr über die Wangen hervorgerufen nicht von ihren Schmerzen, sondern von der großen Leere in ihrem Herzen.
»Mikela …« Jemand flüsterte ihren Namen. Sie war zu müde, um die Augen zu öffnen. Aber die Stimme kannte sie. Es war Prinz Tyrus.
»Bist du bereit?«
Sie nickte. Der Stich des Dolches konnte sie nicht mehr schrecken.
»Mikela …«
Ich bin sogar schon darüber hinweg, dachte sie und öffnete zitternd die Lider.
Tyrus’ Gesicht schwebte über ihr. Er sah ihr fest in die Augen. Überrascht bemerkte sie, dass in den seinen Tränen standen. Er war doch ein harter Mann, ein Pirat, der tausende getötet hatte. Die ersten Tropfen fielen auf ihr Gesicht. »Ich entbinde dich von deinen Pflichten«, sagte er. »Du hast unserer Familie lange und treu gedient.«
Die Worte spendeten ihr ein wenig Trost, sie lächelte und schloss wieder die Augen.
Ein brennender Schmerz raste von ihrem Bauch nach oben.
Er hatte die Klinge angesetzt. Sie unterdrückte ein Stöhnen, da plötzlich presste der Prinz seine Lippen fest auf die ihren und drängte den Schmerz zurück. Die Zeit blieb stehen, für diesen kurzen Moment traten Leid und Blut in den Hintergrund. Mikela merkte, dass auch sie weinte.
»Ich liebe dich«, flüsterte er an ihrem Mund.
Und mit ihrem letzten Atemzug erkannte sie, dass er die Wahrheit sprach. Die Leere in ihrem Herzen füllte sich mit Wärme und Liebe. Und dann, welch süße Qual, gab die Welt sie frei.
Ni’lahn sah, wie Tyrus Mikela losließ und sich aufrichtete. Ihre Gestalt hatte sich während des Kusses verwandelt, aus der Zwergin war wieder die vertraute langbeinige Dro geworden. Der Prinz weinte. Er kam auf die Beine und drehte sich schweigend um. In der Hand hielt er ein großes Stück abgelöster Haut.
Tief geduckt schlich er zu Krals Axt, hob sie auf und hielt sie mit gesenktem Kopf im Schoß. Dann wickelte er die Haut um die eiserne Klinge. »Es tut mir Leid …«, murmelte er vor sich hin.
Ni’lahn stand auf, um ihn für einen Moment mit sich allein zu lassen.
»Ich denke, es wirkt«, sagte Merik und sah zur anderen Seite des Thronsaals hinüber.
Ni’lahn spähte über die Windmauer hinweg und betete, dass Mikelas Opfer nicht
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