Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
im Raum befand. Sie sank auf ein Knie und gestattete sich ein schmales Lächeln. Wie von selbst glitten ihr die Werkzeuge in die Hand. Mit flinken Fingern schob sie die dünnen Stahldrähte in das Schloss und suchte nach den Zuhaltungen.
Ihre Mühe wurde belohnt. Das Schloss löste aus. Sie stand auf und probierte den Mechanismus noch einmal. Jetzt ließ sich die Tür mühelos öffnen.
Ohne lange zu triumphieren, stieß sie sie gerade so weit auf, dass sie mit ihrem schmalen Körper durchschlüpfen konnte. Dann lehnte sie sich von innen dagegen, bis das Schloss einrastete, und drückte den Riegel wieder nach unten.
Der Raum lag im Halbdunkel; nur auf einem Tisch in der hintersten Ecke stand eine Laterne, in der ein winziges Flämmchen flackerte. Sie runzelte die Stirn. Warum hatte jemand eine brennende Lampe zurückgelassen, wenn auch mit weit heruntergedrehtem Docht? Hatte einer der Gelehrten sie vergessen? Sie eilte tiefer in den Raum. Die Erklärung überzeugte sie nicht. Kein Gelehrter würde ein offenes Licht unbeaufsichtigt lassen, schon gar nicht hier.
Zu beiden Seiten erhoben sich hohe Regale mit unzähligen Büchern und Schriftrollen, die die zierliche Gestalt um das Dreifache überragten. Davor standen immer wieder Leitern, um es dem Bibliothekspersonal zu ermöglichen, einen gesuchten Text auch noch vom obersten Bord zu holen. Die Frau ging weiter. Im hinteren Teil des Raumes standen Schreibpulte, Stühle und Tische vor einem großen offenen Kamin. Sie vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass niemand in einer der dunklen Ecken lauerte. Dann trat sie an den Kamin und berührte die Steine der Einfassung mit der Hand. Sie waren noch warm. Das Feuer war erst vor kurzem erloschen.
Sie nagte besorgt an ihrer Unterlippe. Jetzt war Eile geboten. Sie hatte gut zugehört, wenn unter dem Gesinde getuschelt wurde, und daher wusste sie, wo sie zu suchen hatte. Sie strebte dem größten der vielen Schreibpulte zu, einem Ungetüm aus Eichenholz, reich mit Schnitzereien verziert und so voll belegt, dass von der Platte nichts mehr zu sehen war. An allen vier Ecken türmten sich Stapel von Büchern, dazwischen waren inmitten von aufgeschlagenen Folianten und verschiedenen Tintenfässern Pergamentblätter verstreut. Ganz oben lagen, mit Bleigewichten in Gestalt kleiner Waldtiere beschwert, drei offene Schriftrollen.
Das sah nach eifriger Forschungsarbeit aus, doch die Frau kümmerte sich nicht weiter darum, sondern trat an die mittlere Schublade und zog probeweise an ihrem Griff. Überrascht stellte sie fest, dass sie unverschlossen war. Hatte sie sich womöglich getäuscht? Voll banger Vorahnungen riss sie die Lade mit einem kräftigen Ruck heraus. Ein lautes Quietschen war zu hören.
Erleichtert schloss sie für einen Moment die Augen. Er war noch da! Sie schlug die Augen wieder auf und griff in die Lade. Einen Atemzug lang verharrte ihre Hand über dem Kristalldolch, dann legte sie die Finger um den Griff. Die Basiliskenfigur, das alte Symbol der Ghule von Tular, war ihr ein Gräuel. Dennoch nahm sie die Waffe heraus, hielt sie vor die Laterne und betrachtete prüfend die lange rasiermesserscharfe Nachtglasklinge. Das Innere erglühte über die ganze Länge in einem feurigen Schein, der nicht von dem winzigen Flämmchen kam!
Ihr Meister hatte Recht behalten.
Sie war so überwältigt, dass sie zunächst nicht registrierte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Erst als sich hinter der Tür Stimmen vernehmen ließen, erstarrte sie. Da kam jemand!
Sie stieß den Dolch in die Scheide, die in ihren Umhang eingenäht war, lief zum nächsten Bücherregal und huschte, ohne eine Leiter zu Hilfe nehmen zu müssen, daran empor. Sie zog sich auf das oberste Bord, stand auf und balancierte vorsichtig auf dem schmalen Holzstreifen. Hoffentlich hielt das Brett und kippte nicht nach vorn.
Schon ging die Tür auf, und zwei Gelehrte traten ein, ein junger und ein alter Mann in grob gewebten Kutten. Sie hielten Teller mit Brot und Käse in den Händen und waren ganz in ihr Gespräch vertieft.
Die Frau besann sich nicht lange, sondern glitt rasch in die tiefe Dunkelheit am hinteren Ende des Regals. Niemand bemerkte sie, niemand sah ihren Schatten über die Decke tanzen. Ihr Meister hatte sie gelehrt, die oberen Regionen eines Raumes zur Flucht zu nutzen. Die meisten Menschen schauten nach vorn und nach unten, nur selten blickte jemand zur Decke empor. Das bestätigte sich auch jetzt wieder.
Während die
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