Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
gab es Grenzen. Die meisten brachten nur einmal am Tag genügend Energie für eine größere Transformation auf. Und sie hatte sich heute schon zweimal verwandelt von einer Frau in einen Wolf und wieder zurück. Für ein drittes Mal reichte ihre Energie nicht mehr.
Sie sah zu dem großen Baumwolf hinüber, der, die Pfoten fest gegen den Boden gestemmt, weiter den Angriff der Bäume beobachtete. Selbst wenn sie sich verwandeln und wegfliegen könnte, sie würde es nicht tun. Sie konnte ihren letzten Gefährten nicht im Stich lassen. Zu viele andere hatte sie enttäuscht, und das schmerzte mehr als alle Todesängste.
Mikela biss sich auf die Unterlippe und wandte sich einer näher liegenden Frage zu. Wieso fühlten sich alle Grim zu diesem Ort hingezogen wie die Motten zum Licht? Wenn sie das beantworten könnte …
Wieder schwankte der Boden. Der ganze Berg neigte sich zur Seite. Mikela hielt sich an der Altarkante fest.
Neben ihr versuchte Ferndal, die Krallen in den Fels zu graben, um nicht wegzurutschen, aber er war dabei, den Kampf zu verlieren, und glitt unaufhaltsam auf den Rand des Plateaus zu.
Der Steinkogel kippte unter ihnen weg!
»Ferndal!« Mikela streckte einen Arm aus, den anderen brauchte sie, um sich festzuhalten. Ferndal rutschte weiter. Nun hing er schon mit dem Hinterteil über die Kante. »Nein!«
Sie befahl ihrem Arm, sich zu verformen und länger zu werden. Für eine vollständige Verwandlung reichte ihre Energie nicht aus, aber vielleicht für eine so kleine Veränderung …
Sie nahm alle Kräfte zusammen und konzentrierte sich. Die Knochen reagierten nur langsam auf ihr stummes Flehen, doch dann spürte sie ein Brennen sie wurden weich. Ihr Arm wurde dünner, zog sich in die Länge. Ihre Finger krochen über den Fels.
Ferndal bemühte sich, Verzweiflung im Blick, den letzten Halt nicht zu verlieren. Dennoch schwanden seine Kräfte, und er glitt weiter.
»Nein!« Mikela streckte den zerfließenden Arm aus und krallte die Finger um eine Vorderpfote des Wolfs, bevor auch die über die Kante verschwinden konnte. »Durchhalten!« stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
Sie leitete Masse von ihrem Rumpf in den bedenklich dünnen Arm und baute Muskeln auf, um fester zupacken zu können. Im Geiste verwandelte sie sich in zwei Hände die eine umklammerte den Altarstein, die andere krallte sich in das Fleisch ihres Freundes. Nichts anderes zählte. Sie gab, was sie zu geben hatte, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Wie lange sie kämpfte, wusste sie nicht, doch irgendwann gelang es ihr, den Arm in seine ursprüngliche Form zurückzuzwingen. Er verkürzte sich, und sie ließ Ferndals Pfote nicht los, bis sie den Wolf über die Kante und an ihre Seite gezogen hatte.
Als er neben ihr lag, wechselte sie den Griff und legte fest den Arm um ihn. In ihrer Erschöpfung bemerkte sie erst jetzt, dass der Kogel sich nicht weiter neigte, sondern in gefährlicher Schräglage verharrte. Er gewährte ihnen eine Gnadenfrist aber wie lange?
Schon schwoll das Geheul der Geister von neuem an.
Mikela kniff die Augen zu und hörte nicht darauf. Sie hatte genug damit zu tun, sich auf dem schlüpfrigen Granit zu halten. Wenn sie die Altarkante losließe, wären sie beide verloren.
Während sie sich noch auf die Muskeln und Sehnen ihrer Arme konzentrierte, spürte sie, wie sich auf ihrem Kopf die losen Haare sträubten, die nicht fest in den Zopf eingeflochten waren. Die Luft roch plötzlich wie nach einem Sommergewitter. Energie! Mikela öffnete die Augen und schrie auf vor Schreck und Erleichterung.
Sie sah keinen Himmel mehr über sich, ein riesiger Holzrumpf mit blankem Eisenkiel hatte ihn verschluckt. In diesem Moment öffnete sich an der Unterseite eine Luke, und ein langes Seil fiel heraus. Das Ende hing verführerisch dicht über ihr. Sie brauchte nur aufzustehen, um es fassen zu können. Aber daran war nicht zu denken, sie würde ja schon in die Tiefe stürzen, wenn sie nur einen einzigen Muskel bewegte.
Wie um sie vorwurfsvoll daran zu erinnern, erbebte der Fels unter ihr ein weiteres Mal. Der Gipfel neigte sich noch weiter zur Seite.
Süße Mutter … So nahe!
In der Luke erschien eine schmale Gestalt, unverkennbar ein Elv’e. Er ließ sich das Ende des Seils um den Leib binden, dann sprang er aus der Luke und rutschte, nur von der Reibung gebremst, an dem Seil herab. Das ging so schnell, dass Mikela überzeugt war, der Knoten würde nicht halten und der Kletterer in den Tod stürzen.
Weitere Kostenlose Bücher