Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
hielt ihr den schwarzen Pappdeckel vor die Augen.
»Kolja, du …«
»Ich werde in den nächsten Wochen viel Zeit haben«, fuhr er fort, »und sobald ich fertig bin, schicke ich dir das hier. Dann kannst du es lesen und entscheiden, ob die Gründe ausreichen für ein Leben am Südpol!«
»Warum muss das alles so kompliziert sein?«, sie nahm seine linke Hand.
»Das liegt nicht an mir. Kompliziert war nur die Sowjetunion, zumindest wenn man sie etwas genauer kannte«, er versuchte ein Lächeln.
»Ich wünschte mir, es hätte diesen Staat nie gegeben«, sagte sie und blickte zu Boden.
»Ich werde noch ein bis zwei Tage in der Nähe sein«, sagte er, um Sachlichkeit bemüht. »In dieser Zeit wird wahrscheinlich die Polizei hier auftauchen … Sag einfach, ich wäre seit einer Woche spurlos verschwunden.«
»O.k.«, sagte sie und umarmte ihn verzweifelt. Er hielt sie mehrere Minuten lang fest und wünschte sich, Menschen würden wie Computer über Schnittstellen verfügen. Dann könnten sie sich mit einem Datenkabel verbinden und er könnte ihr seinen Gedächtnisspeicher überspielen. Dann brauchte er endlich nichts mehr zu erklären und sich auch nicht mit einem kleinen schwarzen Buch abzuquälen.
»Ich habe einen Mann erschossen«, sagte er schließlich.
»Nur einen?«, sie ließ ihn los und sah ihn an. Sie schien weder entsetzt noch erschrocken zu sein, eher schon ein bisschen neugierig.
»Soviel ich weiß«, ant wortete er verunsichert.
»Du hattest deine Gründe«, sagte sie schließlich und schob ihn sanft in Richtung Tür.
Der Himmel hatte sich wieder zugezogen. Mächtige graue Wolken waren aufmarschiert und nahmen dem Abend sein Licht. Es war aber jetzt schon klar, dass es auch heute kein Gewitter geben würde, höchstens ein paar verirrte fette Regentropfen, die zu schwer waren, um sich in den Wolken zu halten. Ausgestoßen landeten sie a uf dem überhitzten Asphalt und verdampften innerhalb weniger Sekunden. Die Nacht würde wieder drückend und feucht werden. Renan dachte an ihre Dreizimmerwohnung im schieferverkleideten vierten Stock eines sanierten Altbaus und stöhnte.
»Alles o.k.?«, fragte Mirjam.
»Ach«, Renan winkte ab, »musste nur gerade an mein Schlafzimmer denken, in dem es jetzt wahrscheinlich vierzig Grad hat.«
»Au weh«, sagte ihre Schwester mitfühlend, »stimmt, du hast ja keine Rollos oder so?«
»Hm«, sie pritschelte mit den nackten Füßen im lauwarmen Wasser. Sie saßen am Pegnitzufer auf einem großen Stein, der bei normalen Wasserständen gar nicht zu sehen gewesen wäre, sich aber seit zwei Wochen als Sitzgelegenheit für ein Fußbad geradezu aufdrängte. Alfred hatte sich nach der Landpartie am Nachmittag verdrückt, weil er seine Kopfschmerzen auskurieren wollte, und Renan hatte sich gegen Abend mit ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester getroffen, die tags zuvor von ihrer Schulabschlussfahrt aus London zurückgekehrt war.
Mirjam hatte ihr Angebot, gemeinsam noch eine Kleinigkeit zu Abend zu essen, dankend angenommen und binnen kürzester Zeit ein komplettes Schäufele mit Kloß verschlungen, während Renan sich mit einem kleinen italienischen Salat begnügt hatte. Im Gegensatz zu ihr konnte Mirjam in einer Tour essen, ohne zuzunehmen. Zum Glück war Renan dafür fast einen Kopf größer, was diese Ungerechtigkeit zumindest teilweise wieder ausglich. Nach vier Kugeln Eis in der Fürther Straße waren sie schließlich im Pegnitzgrund angekommen.
»Ich verhänge jetzt die Fenster jeden Morgen mit so Transportdecken. Das bringt ungefähr zwei Grad weniger – gigantisch!«, Renan nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie unterwegs bei einem griechischen Obsthändler gekauft hatte, und gab sie dann an ihre Schwester weiter.
»Das hört sich an, als brauchtest du einen Deckenventilator«, sagte Mirjam und nahm ebenfalls einen großen Schluck.
»Ausverkauft«, entgegnete Renan, »nicht mal Papa kriegt noch einen her, und der kann sie direkt beim Großhandel bestellen.«
Sie zog das rechte Bein an und stützte ihr Kinn auf das Knie. Sie spürte, wie sich links und rechts je ein Schweißtropfen aus der Achsel löste und an der Seite abwärts Richtung Hüfte lief. Sie fragte sich, welcher wohl als Erster im Ziel wäre, wettete auf links und verlor. Macht nichts, dachte sie, da kommen heute schon noch mehr.
»Und«, fragte sie nach einigen Minuten Stille, »wie war’s in London?«
»Nicht unbedingt viel Neues«, beschied Mirjam, »aber ich habe es
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