Aldebaran
Würde sie sich überhaupt an ihn erinnern? Zwanzig Jahre. Musste er zurückkehren? Und warum? Um zu gestehen, dass er vor ihr geflohen war, in tödlicher Angst. Und um ihr zu sagen … Ihr was zu sagen? »Es tut mir alles schrecklich Leid. Ich habe jetzt mein Leben. Du hast deins.« Tat er das für sie oder für sich? Und was erwartete er von ihr? »Ich verzeihe dir, Diamantis. Über Todesangst kann man nicht urteilen.« War es nicht das, was er hören wollte? Ihre Vergebung. Hätte er erst einmal ihre Absolution, wäre es nicht mehr sein Problem, wenn sie sich reihenweise von irgendwelchen Kerlen vögeln ließ.
Nein. Die Fragen wüteten in seinem Kopf. Amina hatte ihm viel gegeben. Alles. Ihren Körper und ihre Träume. Sie hatte ihre Hoffnungen in seinen Schoß gelegt. Sie hatten sich mehr als nur geliebt. Sie hatten angefangen, etwas aufzubauen. Mit der Ungeduld des Verlangens.
Amina schlief zum zweiten Mal in ihrem Leben mit einem Mann. Das gestand sie ihm ohne jede Scham. Der Erste, der sie gefickt hatte – sie hatte das einfach so gesagt, ohne Tremolo, mit ausdrucksloser Stimme –, der zählte nicht. Sie wollte nicht über ihn sprechen. Eines Tages vielleicht. Auf dem Schiff, das ihn von ihr forttrug, hatte er sich gefragt, ob der Kerl, der sie entjungfert hatte, nicht ihr Vater war. Oder sein Kumpel, der Fallschirmspringer. Oder ein Kumpel des Fallschirmspringers.
Nein. Das konnte er nicht. Wenn er das Kapitel abschloss, gestand er sich damit ein, dass er Amina nicht geliebt hatte. Lieben verlangte auch Mut. Zwanzig Jahre waren nichts, änderten nichts. Es gab nur die Wahrheit der Gefühle. Seiner Liebe. Wahr. Falsch.
In seinen Schläfen begann es zu pochen. Die Fragen erweckten den Schmerz zu neuem Leben. Er spürte ihn die Wirbelsäule hochkriechen wie einen Schwarm Ameisen. Er würde bis in den Kopf vordringen und wieder von innen gegen die Schädeldecke hämmern. Er musste sich entscheiden.
»Was rätst du mir?«, fragte er schließlich Mariette.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Jetzt nicht mehr lachend. Völlig ernst. »Willst du das wirklich wissen?«
Während er erzählt hatte, war sie ihm in allem gefolgt, was ihn bewegte. Sie war gerührt. Er war ein starker Mann. Nicht einmal seine Zweifel waren Schwächen. Er mochte sich verirren, aber er verlor nie das Ziel aus den Augen, das er sich gesetzt hatte. Sie dachte daran, was er ihr gestern in der Pizzeria über Odysseus erzählt hatte. »Belebt von dem friedlichen Heldenmut, die Grenzen einer voll und ganz menschlichen Welt nicht zu überschreiten.«
Diamantis hatte etwas von Odysseus. Er schien mitten im Herzen seines Dramas zu leben. Weil er von Grund auf frei war. Und weil das Drama immer mit der Bejahung der Freiheit begann. Sie antwortete ihm genau das, was er nicht hören wollte. Oder was er nicht mehr hören konnte. Sie sagte es ihm mit voller Liebe, die sie in sich aufkeimen spürte.
»Vergiss die Vergangenheit, Diamantis. Lass sie ruhen. Das ist es, was ich denke. Und auch, dass du dieses Schiff verlassen solltest. Wenn du wieder zur See fahren willst, fahr wieder zur See. Aber bleib nicht dort an Bord und käue deine Gedanken wieder.« Und sie fügte hinzu, weil auch das gesagt werden musste: »Du kannst hier bleiben. Kein Problem. Solange du willst. Laure und ich kommen schon zurecht«, setzte sie noch hinzu, damit er sich keine Sorgen machte. »Ich kann sie mit zu mir nehmen und dir ihr Zimmer lassen.«
»Du hast Recht«, antwortete er. Er wusste, dass sie Recht hatte. »Ja, du hast Recht.«
Sie glaubte ihm nicht.
»Aber … Ich muss an Bord. Sie machen sich bestimmt Sorgen.« Für einen Moment wich er Mariettes Blick aus. Aber das war nicht nötig. Er brauchte sie nicht zu belügen. Er sah ihr wieder in die Augen.
»Ich weiß noch nicht, Mariette. Ich weiß noch nicht.«
»Ich fahr dich hin.«
Sie brachte ihn bis zum Kontrollposten. »Wirds gehen?«, fragte sie und hielt ihm die Tür auf.
Sie hatten nicht miteinander gesprochen, seit sie in den Wagen gestiegen waren.
»Ja … die fünfhundert Meter werde ich überleben«, versuchte er zu scherzen.
Er drehte sich zu ihr um. Sie war schön. Es war nicht Aminas Schönheit. Auch nicht Melinas. Vielleicht wäre Mariette ihm auf der Straße nicht einmal aufgefallen, wenn da nicht Toinou gewesen wäre, wenn er es neulich Nachmittag nicht zugelassen hätte, dass sein Blick sich in ihren Augen verlor. Aber jetzt vor ihm, in diesem Gefühl, das sie erfüllte, und diesem
Weitere Kostenlose Bücher