Aldebaran
zu zerfleischen. Es fehlte immer ein Ei zum Dutzend. Also klaute man es dem Nachbarn. Der nach der Polizei rief. Oder seine Flinte hervorholte. Sich gegenseitig umbringen. Für eine Frau, ein Auto, einen falsch gesetzten Zaun, ein Stück zertrampelter Erde, eine Religion, ein Land. Es gab immer einen, der sich für was Besseres hielt. Für reiner. Gerechter. Und der Köpfe rollen ließ, mordete, massakrierte. Im Namen der Vernunft …
Diamantis wechselte den Sender. Dieselben Nachrichten, aber mit Kommentar. In Marseille war in einem Viertel, das er nicht kannte, eine Schule von einigen Schülern geplündert worden. Man fragte sich, warum. Der Direktor. Die Lehrer. Die Eltern der Schüler … Er schaltete das Radio aus. Das war deprimierend.
Er trank eine zweite Tasse Kaffee, zu der er eine Zigarette rauchte, und stand auf die Tischkante gestützt auf. Wie ein Greis. Er fühlte sich alt. Schwerfällig ging er ins Wohnzimmer. Zur Stereoanlage. Er brauchte Musik. Santana, Dylan, Khaled, Verdi, Tito Puente, die Stones … Mariette besaß eine ungewöhnliche Auswahl. Das liebte er. Er fand, was er suchte. Gianmaria Testa. Das Haus füllte sich mit dem Klang seiner Stimme.
Io ti parlavo ancora e tu eri già partito.
E quello che dicevo non lo ascoltavi più.
La musica, il bicchiere le altre sere
ti avrebbero legato qui ma non adesso.
Ti sento addosso e non ci sei …
Von diesen Tönen gewiegt, schlief Diamantis bei dem Versuch ein, den Text zu verstehen. Ti sento addosso e non ci sei … Ich spüre dich bei mir, und du bist nicht mehr da … Du bist nicht mehr da. Warum bist du nicht mehr da? Wer ist nicht mehr da?
Als er die Augen wieder aufschlug, sah er in Mariettes Gesicht. Rund und sanft. Umgeben von einem Hof leuchtender Haare wie ein Heiligenschein. Eine Erscheinung. Sie lächelte ihn an. Die Fensterläden standen jetzt einen Spalt offen. Ein Sonnenstrahl fiel ins Zimmer. Mariette strahlte im Gegenlicht.
Er lächelte zurück. Die Augen fielen ihm ungewollt wieder zu. Sein Kopf war noch schwer. Sein Körper zweifellos auch. Er spürte ihn nicht mehr. Der Schmerz hatte ihn in Blei verwandelt. Er war schweißgebadet.
»Wie fühlst du dich?«, hörte er sie fragen.
Aufwachen. Vielleicht würde es helfen, wenn sie eine Hand auf seine Stirn legte. Das würde ihm gut tun. Den Schweiß beruhigen, der ihm über die Schläfen rann.
Er nickte, ohne zu antworten, und lächelte ihr erneut zu.
»Du bist ganz heiß.« Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Kühl und leicht. Mariette, die Oase. Er ließ seinen Körper von dieser Frische durchtränken.
»Ich hab Durst«, sagte er.
Und die Augen fielen ihm wieder zu.
Sie half ihm zu duschen. Seifte ihn ein, duschte und trocknete ihn ab. Sein Körper war voller blauer Flecken. Unter dem fast kalten Wasserstrahl kehrte langsam Leben in ihn zurück. Die Dinge rückten wieder an ihren Platz. In seinem Kopf begannen die Fragen wieder zu pulsieren wie das Blut in seinen Adern and an der Spitze seines Gliedes, als Mariettes seifige Finger vom Bauch über die Leisten glitten. Sehr geschickte Finger. Eine süße Erregung machte sich bemerkbar. Er wünschte, sie würden noch ein paar Augenblicke dort verweilen. Oder länger vielleicht, ja, danach sehnte er sich. Aber sie überging seine Erektion, erwähnte sie mit keinem Wort, sondern drehte ihn um.
Beim Kaffee erzählte er Mariette alles. Er war neu gekleidet. Sie hatte ihm eine beige Leinenhose gekauft, ein großes, weißes T-Shirt und sogar eine Unterhose.
»Blut geht schlecht raus aus den Klamotten«, hatte sie gesagt. Sie fand, er war ein schöner Mann. Sogar mit dem lila, mittlerweile fast schwarzen Veilchen unter dem Auge.
»Ich bin wohl kein besonders erfreulicher Anblick.«
Sie lachte, stand auf, verschwand und kam mit einer großen Sonnenbrille wieder, die sie ihm auf die Nase setzte.
»Na bitte. Sie sind ein Prachtskerl, Monsieur!«
Sie lachte wieder, und ihre Fröhlichkeit steckte ihn an. Noch ein Moment der Freude, den sie dem Leben abluchsten, das draußen ungeduldig auf Diamantis’ Rückkehr wartete. Um erneut Besitz von ihm zu ergreifen. Mit seinen Fragen und Zweifeln. Seinen Gesetzen und Vorschriften. Weil man das Leben nicht einfach zurücklassen kann. Eine Tür ist entweder offen oder geschlossen sein. Was tun? Die Tür öffnen, um zu verstehen, was er hinter sich gelassen hatte? Oder die Tür für immer hinter sich schließen? Was wollte er? Er wusste es selbst nicht mehr recht. Amina.
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