Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
Karren auf, der unter dem Gewicht seiner Ladung ächzte.
»Madre de Dios«, flüsterte Hernandez und bekreuzigte sich.
Sie wechselten bestürzte Blicke. Hernandez zeigte auf den Karren und sagte: »Ja, ein wirklich unglücklicher Mann wäre vielleicht auf diese Weise gereist.«
Als der Karren langsam deutlicher sichtbar wurde, erkannte Alejandro Hände und Füße, die seitlich herausragten. Ein Mann in einem schwarzen
Kapuzengewand, eine Peitsche in der Hand, ging vor dem Maultier her und drehte sich alle paar Schritte um, um auf das widerspenstige Tier einzuschlagen, das anscheinend die Reisenden auf dem Karren mit seinem jämmerlichen Gewieher aufwecken wollte.
Der Arzt spürte, wie seine Neugier wuchs. Endlich, dachte er bei sich. Jetzt werde ich selbst sehen, oh die Geschichten, die wir gehört haben, wahr sind.
Als der Karren näher kam, ließ er ihn nicht aus den Augen. »Seht nur, wie zerlumpt und schmutzig sie alle sind«, sagte er zu Hernandez. »Sie müssen zu Lebzeiten alle arm gewesen sein. Und schaut nur!« sagte er und zeigte auf den Karren. »Kein einziger trägt Schuhe!«
»Daraus kann man noch nicht auf Armut schließen«, sagte Hernandez in zynischem Ton. »Wahrscheinlich haben die Armen sie gestohlen, um ihren eigenen Füßen etwas Gutes zu tun.« Er bekreuzigte sich wieder, die zweite ungewöhnliche Geste für einen Mann, der es sonst mit den Vorschriften seiner Religion nicht zu genau nahm. »Gebe Gott, daß ich nie solche Entbehrungen kennenlerne.«
Alejandro bemerkte das beschützende Ritual und sagte: »Ihr seid viel zu einfallsreich, als daß Euch ein solches Schicksal beschieden sein könnte.«
Düster starrte Hernandez den Karren an. »Das stimmt wohl, denke ich, und die Jungfrau sei gelobt«, sagte er leise. »Aber ich würde mit Freuden mein Vermögen geben für die Gewißheit, nicht zu enden wie diese armen Seelen.«
So eine Gewißheit gibt es nicht, dachte Alejandro bei sich. Vor dieser Geißel sind wir alle gleich. Er wollte sich dem Karren nähern, und Hernandez begann sofort zu protestieren.
Alejandro beachtete die Ausrufe seines Begleiters nicht und ging so nahe an den Karren heran, wie seine eigene Furcht es zuließ. Ein ekelhafter Gestank ging von ihm aus, und Alejandro mußte ein paar Schritte zurücktreten. Er wandte den Kopf ab, weil es ihn würgte, und atmete mehrmals tief die frische Luft ein. Als er sich dem Karren erneut näherte, hielt er sich den Ärmel seines Hemdes vor die Nase.
Auf dem Totenkarren sah er die verrenkten Leichen von Frauen, Kindern, alten Männern; sie waren groß und klein, hell und dunkel, so verschieden, wie Menschen nur sein können. Hernandez hatte recht , dachte er bei sich, sie waren nicht alle arm. Einige wiesen Anzeichen von Beleibtheit auf und waren im Leben vielleicht wohlhabend gewesen; andere waren klapperdürr und verbraucht, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie für ihr tägliches Brot lange und hart gearbeitet hatten, bevor sie ein schmähliches Ende fanden. Neugierig spähte er nach den Leichen, sah sich die geschwollenen Hälse und aufgeschwemmten Finger der unglücklichen Opfer an und kam zu dem Schluß, daß keine der Erzählungen, die er gehört hatte, übertrieben gewesen war.
»Wohin bringt man sie?« sagte er zu dem Karrentreiber.
Der Mann blickte auf und sah ihn mit einem müden Blick an, der fast so tot wirkte wie seine grausige Fracht. Unwillkürlich jagte eine düstere Vorahnung Alejandro einen Schauder über den Rücken.
»Sie werden auf einen Acker nördlich der Stadt gebracht, wo der Priester für alle zusammen eine Totenmesse lesen wird. Gott gebe, daß sie nicht ohne Beichte gestorben sind!«
Obwohl er nicht genau verstand, was »ohne Beichte« bedeutete, nickte Alejandro, als habe er Mitgefühl für das Ungemach derer, die so gestorben waren, und hoffte insgeheim, daß der Gott der Christen den Wert der Seele nicht am Aussehen des Leichnams maß. Er würde Hernandez später bitten, ihm die Bedingung zu erklären. Etwas zittrig vom Anblick der grauenhaften Fracht des Karrens, kehrte er zum Brunnentrog zurück und fuhr mit seinen Waschungen fort.
Die majestätischen Bögen der großen Brücke von St. Benezet spannten sich elegant über die Rhone; die schön gemeißelten Steine spiegelten sich im glänzenden Wasser. Alejandro hielt den Atem an, als sie in Sicht kam; sie waren auf einer baumbestandenen Straße um eine Biegung geritten, als die Brücke plötzlich aus dem Nichts auftauchte, massiv und
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