Alera 01 - Geliebter Feind
hierher, um etwas über meine Herkunft zu erfahren. Die Hohepriesterin besteht auf meine Rückkehr, weil ich, wie viele andere auch, dazu erzogen wurde, ihr zu dienen. Sie schätzt es nicht, etwas zu verlieren, das für sie von Wert ist.« Er machte eine Pause, senkte den Blick und seine goldfarbenen Lockenverbargen sein Gesicht. »Ich wäre nicht nur, wie Ihr es ausgedrückt habt, ›elterlicher Strafe‹ ausgesetzt, wenn Ihr mich ihrer Obhut überlassen würdet.«
Kurz darauf hob Narian wieder den Kopf und sah mit gequälten blauen Augen in die freundlichen braunen meines Vaters. Offenbar war ihm bewusst, dass der König die Schwachstelle darstellte.
»Ich fühle mich Cokyri nicht verpflichtet, Eure Majestät. Ich werde mich natürlich ohne Widerrede der Entscheidung beugen, die Ihr über meine Zukunft zu treffen geruht, aber ich möchte Euch bitten, Hytanica als meine Heimat betrachten zu dürfen.« Seine Stimme hatte einen flehenden Ton, dennoch stand seine Aufrichtigkeit für mich infrage.
Mein mitfühlender Vater schaffte es selbstverständlich nicht, Narian abzuweisen.
»Cannan, mein Entschluss steht fest. Wir werden ihm den gleichen Schutz gewähren wie jedem unserer Kinder auch.«
Der Hauptmann musterte Narian ein letztes Mal eingehend, und mir schien es, als wüsste er, dass der junge Mann etwas vor ihnen verbarg. Dennoch forschte er nicht weiter nach.
»Ihr solltet in meinen Dienstraum zurückkehren«, sagte er nur.
»Ich danke Euch, Sir«, sagte Narian zu Cannan und verbeugte sich vor meinem Vater. »Und ich danke Euch, Majestät.«
Die Erleichterung, die ich ihm jetzt ansah, wirkte echt. Er tat wie ihm geheißen und begab sich zum Dienstraum des Hauptmannes. Allerdings trat er nicht in das Zimmer ein, sondern lehnte sich wie zuvor an die Wand.
Während wir weiter auf London und Destariwarteten, dachte ich über die Mehrdeutigkeit von Narians Erklärung nach. Dem Wortlaut nach war er wohl ehrlich gewesen, doch ließen seine sorgsam gewählten Worte mehr als eine Schlussfolgerung zu. »Ich kann nichts über den Grund sagen, aus dem man mich entführt hat« wurde von meinem Vater als »ich kenne den Grund nicht« interpretiert. Dabei konnte es auch heißen »ich weiß den Grund, werde ihn aber nicht preisgeben«.
Nur eine halbe Stunde später trafen London und Destari ein. Als sie gemeinsam den Thronsaal durchschritten, verstummten die Wachen und starrten den Mann an, in dem die meisten von ihnen einen Verräter sahen. Ich wusste, dass einige anders dachten und rechnete auch Cannan dazu, obwohl er an der Entscheidung, meinen ehemaligen Leibwächter zu entlassen, beteiligt gewesen war. Wenn Cannan ihn tatsächlich für einen Verräter gehalten hätte, hätte er ihn keinesfalls in den Palast holen lassen – außer um ihn in den Kerker zu werfen.
London sagte nichts, sondern beobachtete nur den Hauptmann, der sich ziemlich unbehaglich zu fühlen schien. Seine Züge wirkten hochgradig verspannt und seine Kiefer mahlten, als Cannan die entscheidende Frage stellte.
»London, Ihr kennt die Cokyrier besser als jeder andere. Was würdet Ihr uns als nächsten Schritt vorschlagen?«
»Welchen wertvollen strategischen Rat sollte ein einfacher Bürger dem Hauptmann der Elitegarde schon geben können?«, fragte London zurück und hob eine Augenbraue.
Cannan starrte den ehemaligen Gardisten wutentbrannt an und räusperte sich.
»Kraft meiner Autorität als Oberkommandierender des hytanischen Militärs setzte ich Euch wieder in Eure Funktion als Elitegardist des Königs und Hauptmannstellvertreter ein.«
So unglaublich das klingen mochte, aber damit war meine schreckliche Tat ungeschehen gemacht. Vielleicht sah London sich jetzt doch in der Lage, mir zu verzeihen. Ich war so erleichtert, dass ich mich zwingen musste, nicht auf ihn zuzustürmen. London dagegen nickte Cannan nur zu, um ihm seinen Dank auszudrücken. Ansonsten blieb seine Haltung unverändert.
Der Hauptmann war jedoch nicht gewillt, London die Situation lange auskosten zu lassen.
»Nun, welches Vorgehen schlagt Ihr uns vor?«, hakte er nach.
»Das ist doch ganz einfach«, erwiderte London, ganz Herr der Lage. An meinen Vater gewandt fragte er: »Beabsichtigt Ihr, den Jungen auszuliefern, Euer Majestät?«
»Nein«, antwortete mein Vater. »Er ist Hytanier und genießt daher den uneingeschränkten Schutz seines Königreiches.«
»Dann haben wir Folgendes zu tun.« Londons Ton gab bereits zu verstehen, dass er keinen Widerspruch dulden
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