Alera 01 - Geliebter Feind
nicht wagte, sie bei mir zu behalten. Vielleicht hätte meine Zofe sie entdeckt, und der daraus resultierende Klatsch wäre womöglich meiner Mutter, meinem Leibwächter, Kade, Cannan oder gar dem König zu Ohren gekommen.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Narian, nachdem er die Kleidungsstücke eingepackt hatte. »Die Sonne wird bald aufgehen, und dann wäre es mir unmöglich, ungesehen über das Dach zurückzuklettern.«
Ich nickte und sank in seine Arme. Wir küssten uns, und er strich mit den Händen durch mein zerzaustes Haar und über meinen Rücken. Als er mich an sich presste,jagte ein Schauer durch meinen ganzen Körper. Es wurde immer schwerer, sich in diesen Nächten von ihm loszureißen, und ich wusste, dass es ihm genauso erging. Doch er blieb ein Gentleman und trat einen Schritt von mir zurück, um die Balkontüren zu öffnen. Ich ging mit ihm hinaus, und er gab mir einen letzten Kuss, bevor er sich nach meinem Klettergeschirr und dem Seil bückte.
»Meine Sachen«, sagte er erstaunt. »Sie sind weg.«
Ich ließ meinen Blick ebenfalls über den Balkonboden schweifen, konnte jedoch nichts finden.
»Sucht Ihr vielleicht das hier?«, fragte ein Mann, der hinter uns im Schatten stand.
Erschrocken machte ich einen Satz und wirbelte herum. London lehnte an der Palastmauer und hielt Narians Sachen in der Hand. Mein Herz sank mir bis in die Kniekehlen, denn ich wusste, dass wir nun in ernstlichen Schwierigkeiten steckten.
»Hinein mit Euch, alle beide«, befahl London, und wir gehorchten eilig. Keiner von uns wagte, ein Wort zu sagen, denn es gab ohnehin nichts, das wir zu unserer Entschuldigung hätten vorbringen können.
London folgte uns und schloss geräuschvoll die Türen, dann richtete er seine Augen auf mich.
»Morgen werden wir diese Türen zunageln lassen. Sie scheinen zu viel kalte Nachtluft hereinzulassen. Und ich möchte doch nicht, dass du dich erkältest.«
»London, ich weiß, wie das jetzt auf dich wirken muss …«
»Versuch es erst gar nicht«, schnitt er meinen kläglichen Erklärungsversuch mitten im Satz ab.
Dann wandte er sich mit zusammengebissenen Zähnen an Narian. »Ihr kommt mit mir. Und wir werden den anständigen Weg nehmen, durch die Salontür.« Mit finsterer Miene drehte er sich zu mir um, und ich zucktezusammen. »Du, Alera, bleibst hier. Über dein Benehmen reden wir später.«
Er öffnete die Tür meines Schlafzimmers, schubste Narian hinaus und knallte dann die Tür hinter sich zu. Ich presste mich an die Tür, um zu lauschen, denn mit Sicherheit war Narian von Londons Behandlung gekränkt und würde seinen Tadel nicht hinnehmen. Es dauerte keine Minute, bis ich etwas hörte, das erst nach einem Handgemenge klang und dann, als würde jemand mit dem Rücken gegen die Wand geschubst.
»Ihr werdet Euch von Alera fernhalten, sonst bekommt Ihr es mit mir zu tun«, brummte London.
»Glaubt Ihr wirklich, ich hielte Euch für einen würdigen Gegner?« Narians Stimme war leise, aber ruhig.
»Ich könnte Euch weitaus gefährlicher werden als jeder andere, dem Ihr bisher in Hytanica begegnet seid.«
Danach herrschte Schweigen, und ich stellte mir vor, wie London und Narian einander anstarrten und sich abzuschätzen versuchten.
»Jetzt werden wir durch diese Tür hinausgehen, und Ihr werdet Euch unverzüglich in Eure Gemächer begeben. Ich rate Euch auch, mir heute lieber nicht mehr unter die Augen zu kommen.«
London schien das Gespräch beendet zu haben, denn ich hörte beide auf den Flur hinaustreten. Allein und verzweifelt blieb ich in der unerbittlichen Dunkelheit zurück.
London ließ sich bis zum Spätnachmittag Zeit, um meinen frühmorgendlichen Ausflug mit mir zu besprechen. Ich vermutete, dass er das mit Absicht tat, damit ich den ganzen Tag über mein Verhalten nachdenken konnte. Er betrat meine Gemächer in Begleitung eines Schreiners, den er sogleich in mein Schlafzimmer führte. Dorterteilte er ihm den Auftrag, meine Balkontüren zuzunageln. Während der Mann tat wie ihm geheißen, lehnte London sich mit dem Rücken an die Wand zwischen Salon und Schlafzimmer und beobachtete mich. Ich saß auf der Kante des Sofas und mein Kopf schmerzte im Rhythmus der Hammerschläge. Wenn das nur alles schon vorbei wäre, dachte ich bei mir.
Nachdem der Handwerker wieder gegangen war, herrschte ein unbehagliches Schweigen, bis London, der immer noch an der Wand lehnte, das Gespräch eröffnete.
»Gib mir eine Erklärung, wenn du kannst.«
»Ich glaube nicht, dass ich
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