Alera 01 - Geliebter Feind
finde ich ihn noch rechtzeitig.«
»Du würdest ihm doch kein Leid zufügen, London?«, flüsterte ich.
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt«, erwiderte er, doch der harte Ton seiner Stimme stand im Widerspruch zu seinen Worten. Damit ging er, und ich blieb schaudernd zurück, denn ich hatte keinerlei Wärme oder Zögern in seinen Augen gesehen.
Nachdem man seinen Leibwächter am Abend gefesselt und geknebelt in einem der anderenGästezimmer im dritten Stock entdeckt hatte, stand fest, dass Narian tatsächlich geflohen war. Und als innerhalb der darauffolgenden Tage keine Spur von ihm in der Stadt zu entdecken war, blies Cannan die Suche ab, weil damit klar war, dass er gleich nach seinem Verschwinden aus dem Palast auch die Stadtmauern hinter sich gelassen haben musste.
Ich hatte größte Mühe damit, zu akzeptieren, dass ich ihn offenbar weniger gut kannte, als ich angenommen hatte. Ich begann meine Reaktionen zu überdenken und fürchtete, seine Gefühle für mich falsch interpretiert zu haben. Der schmerzliche Gedanke, dass London mit seiner Einschätzung richtiggelegen hatte, tauchte immer wieder in meinem Bewusstsein auf. Ich zermarterte mir das Hirn mit der Suche nach einer anderen Erklärung und weigerte mich einzusehen, dass er uns verlassen hatte, weil er nicht daran glaubte, dass wir zusammen sein könnten. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass er Hytanica nicht liebte und nur für mich etwas empfand. Und dass er kein Verlangen nach meiner Freundschaft hatte, wenn alles andere ausgeschlossen wäre.
Die einzig denkbare andere Begründung, die mir einfiel, war, dass er irgendwie von dem Gespräch zwischen London und Cannan erfahren hatte, und verschwunden war, weil er sich in Gefahr wähnte. Ich wusste besser als jeder andere, dass Narian geradezu gespenstisch geschickt war, was die Beschaffung von Informationen anging, und dass er nicht geblieben wäre und sich einer Auseinandersetzung gestellt hätte, wenn sein Verschwinden die klügere Alternative war. Außerdem war ihm wohl ebenso wie London aufgegangen, dass sein Tod die Bedrohung für Hytanica beträchtlich verringern würde.
Trotz Narians Flucht brachen die Cokyrier die Belagerung nicht ab. Das verwirrte mich, bis London mich darauf hinwies, was es bedeutete. Nämlich dass Narian nicht in das Land zurückgekehrt war, in dem er aufgewachsen war. Denn das Ziel unserer Feinde war schließlich, uns zu seiner Auslieferung zu zwingen. Ich betete weiter um die Beendigung des Konflikts und schöpfte eine gewisse Hoffnung daraus, dass Narian nicht zum Feind übergelaufen war. Mit Sicherheit empfand er also doch eine gewisse Loyalität gegenüber Hytanica. Auch London sah darin ein gutes Zeichen und vermutete, dass der junge Mann sich irgendwo im Gebirge versteckt hatte. Damit war es immerhin noch möglich, dass er irgendwann genügend Vertrauen zu uns aufbrächte, um zurückzukehren. Allen schlimmen Konsequenzen, die ihm drohen mochten, zum Trotz.
Als der März anbrach und es in der Frühlingssonne wärmer zu werden begann, da schlug auch die Stimmung im Palast um. Zu der Anspannung aufgrund der Belagerung unserer Stadt kam neue Aufregung, denn es gingen Gerüchte um, wonach ein Angriff gegen die Cokyrier vorbereitet würde. Damit sollte der Feind bis hinter den Recorah zurückgedrängt werden. Der Fluss war um diese Jahreszeit aufgrund der Regenfälle und der Schneeschmelze in den Bergen ein reißender Strom. Sollte es uns gelingen, den Feind auf das andere Ufer zu zwingen und unsere Grenze zu sichern, dann konnten wir unser Land bestellen. Die Vorräte in der Stadt schwanden dahin und bald würde es unerlässlich sein, auf die Jagd zu gehen und neue Lebensmittel zu beschaffen. Außerdem musste die Saat ausgebracht werden.
Trotz der veränderten Atmosphäre hielt meinKummer über Narians Verschwinden unvermindert an. Die Traurigkeit hatte sich tief in meiner Seele festgesetzt, und ich war von einem Schmerz erfüllt, der, egal womit ich meine Tage verbrachte, nicht nachließ.
Unser Angriff begann an einem bewölkten Abend Anfang März. London und zwei Dutzend Kundschafter rückten als Erste und zu Fuß aus. Da Destari nicht mitging, fragte ich ihn, was für einen Auftrag diese nur kleine Truppe hätte. Ich erschauderte, als er mir berichtete, die Männer hätten mit giftigem Pulver gefüllte Beutel bei sich. Ihr überaus gefährlicher Auftrag bestand darin, die Trinkwasservorräte der cokyrischen Soldaten in ihren Feldlagern zu vergiften. Als ich
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