Alera 01 - Geliebter Feind
veränderte seine Haltung, als wäre es ihm unangenehm.
»Ich bin aufgestanden, als es noch dunkel war, und du warst verschwunden.«
»Ich war nirgends. Vielleicht bin ich für einen Augenblick auf den Flur hinausgetreten, aber ansonsten habe ich die ganze Nacht hier verbracht. Vielleicht hast du das nur geträumt.«
»Das müsste ein ziemlich lebensnaher Traum gewesen sein.« Wütend biss ich mir auf die Unterlippe. »Warum belügst du mich, London?«
»Ich belüge dich nicht!«, giftete er zurück und stieß sich mit blitzenden Augen von der Wand ab. »Willst du mir etwa vorwerfen, dass ich meine Pflichten vernachlässige?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich, eingeschüchtert von seiner Wut.
Eine solche Pflichtverletzung wäre die Missachtung von allem, wofür er stand, von allen Eiden, die er als Soldat von Hytanica und Angehöriger der Elitegarde geschworen hatte. Das konnte ihn seine Karriere, wenn nicht gar sein Leben kosten.
»Ich wollte dir nichts unterstellen. Es tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe. Ich war doch nur … neugierig.«
»Wenn du immer noch bei der Befragung dabei sein willst, sollten wir jetzt gehen.« Er benahm sichabweisend und seine Stimme klang immer noch ungehalten.
Schweigend steuerten wir auf die Wendeltreppe zu. Ich schämte mich dafür, wie ich mit London gesprochen hatte, war aber dennoch irritiert wegen seiner heftigen Reaktion. Zumindest wusste ich, dass er mir verzeihen würde, weil er das immer tat. Als wir die Stufen zum ersten Stock hinunterstiegen, klangen uns laute, empörte Stimmen vom anderen Ende des Ganges entgegen, wo wir schließlich auf meinen Vater, den Hauptmann und vier Wachen der Leibgarde stießen.
»Wie kann denn das sein?« Mein Vater war außer sich und der Ring an seinem Finger rotierte fast.
»Sie muss in der Nacht geflohen sein. Als Kade sie heute Morgen holen wollte, war sie verschwunden.« Cannan sprach mit ruhiger Stimme, aber seine Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht.
»Gibt es ein Problem?«, fragte London und zog die Aufmerksamkeit aller auf uns.
Mein Vater meldete sich zu Wort, bevor Cannan ihm antworten konnte. »Wie es scheint, ist unsere Gefangene irgendwann im Laufe der Nacht ausgebrochen und geflohen.«
»Hat man die Umgebung schon abgesucht? Vielleicht befindet sie sich noch auf dem Schlossgelände.«
»Ja, aber die Suche hat nichts erbracht«, erwiderte Cannan und wirkte von Londons Neigung, seine Autorität zu untergraben, leicht genervt. »Ich habe die Suche auf die gesamte Stadt ausgedehnt und auch unsere Grenzpatrouillen alarmiert. Aber bislang fehlt jede Spur von ihr.«
»Wie kann sie entkommen sein?«, platzte ich heraus, auch wenn es mir eigentlich nicht zustand, hier Fragen zu stellen.
Cannan warf mir einen strengen Blick zu, antwortete aber dennoch. »Das müssen wir noch herausfinden. Laut Kade war ihre Zelle ordnungsgemäß verschlossen, nur befand sie sich nicht mehr darin.«
»Das ergibt doch alles keinen Sinn!«, rief mein Vater aufgebracht und unterstrich seine Worte mit heftigen Gebärden, sodass alle unwillkürlich ein wenig zurückwichen. »Es sollte doch wohl unmöglich sein, aus unserem Kerker zu fliehen, ob mit oder ohne Bewachung!«
»Ich habe Kade befohlen, alle Wachen zum Verhör zu bringen, die letzte Nacht Dienst im Kerker hatten«, antwortete Cannan. »Sollten die Cokyrier nicht wirklich so schlau und durchtrieben sein, wie es in den Legenden heißt, müssten die Männer uns einige Antworten geben können.«
»Schande über den Verräter!«, rief einer der Elitesoldaten, die den Hauptmann und den König begleiteten.
»Tadark!«, rief Cannan den jungen Leutnant streng zur Ordnung. »Das reicht!«
»Zweifellos gibt es einen Verräter unter uns«, fuhr Tadark trotzig fort. »Ohne Hilfe hätte die Gefangene nicht entkommen können. Und es muss jemand gewesen sein, der sich bereits im Palast aufhielt, sonst hätte er doch niemals Zugang zum Kerker bekommen.«
Pathetisch wandte sich Tadark direkt an meinen Vater. »Ich bitte Euch, Hoheit, schlaft nicht zu tief und bleibt selbst in Gegenwart Eurer vertrautesten Wachen auf der Hut.«
»Genug jetzt!«, donnerte Cannan mit derart durchdringender Stimme, dass ich sofort Mitleid mit Steldor empfand, falls ihn der Zorn, der in diesem einen Ausruf mitschwang, jemals getroffen hatte.
»Sehr wohl, Sir«, antwortete Tadark, doch seingekränkter Ton ließ vermuten, dass er sich durchaus im Recht fühlte.
Da es kein Verhör geben würde, kehrte ich
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