Alex Cross 07 - Stunde der Rache
eine andere Stimme. Sie kam aus dem Pickup. Jemand steckte da drinnen. William? Lebte der Bruder?
Mit der Glock in der Hand näherte ich mich dem Fahrzeug . Der Motor rauchte immer noch. Ich hatte Angst, das Ding könnte explodieren.
Ich kletterte auf das schwankende Wrack und riss die verbeulte Tür auf. Ich sah William – erschossen, sein Gesicht nur eine blutige Maske.
Und dann blickte ich in die arrogantesten wütendsten Augen, die ich je gesehen hatte. Ich erkannte sie auf Anhieb. Eigentlich
war es nicht mehr möglich, mir noch einen größeren Schock zu versetzen – aber das übertraf alles Vorhergegangene. »Also Sie sind es«, sagte ich.
»Sie haben die Brüder umgebracht, und dafür werden Sie Sterben«, sagte die Stimme drohend. »Ja, Cross, Sie werden Sterben!«
Vor mir war Peter Westin, der Vampir-Experte, den ich vor einigen Wochen in Santa Barbara kennen gelernt hatte. Er hatte Schnittwunden und blutete, aber er zeigte vollkommene Selbstbeherrschung, obwohl ich meine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Er war eiskalt und verdammt selbstsicher. Ich erinnerte mich, wie ich ihm in Santa Barbara in der Davidson Bibliothek gegenübergesessen hatte. Er hatte mir erklärt, er sei ein echter Vampir. Jetzt glaubte ich das. Endlich fand Ich die richtigen Worte. »Sie sind der Sire.«
92
I n dieser Nacht führte ich im Gefängnis von Santa Cruz mehrere Gespräche mit dem unheimlichen und surrealen Peter Westin. Kyle wollte ihn zur Ostküste schaffen lassen, aber ich bezweifelte, dass ihm das gelingen würde, da Kalifornien Westin wollte. Er trug ein langärmeliges, schwarzes Samthemd und schwarze Lederhosen und war leichenblass. Feine blaue Äderchen zeichneten sich unter der durchsichtigen Haut an den Schläfen ab. Seine Lippen waren voll und röter als bei den meisten Menschen. Der Sire schien kein Mensch zu sein, und für mich bestand kein Zweifel, dass er genau diese Wirkung erreichen wollte.
Im selben Raum mit ihm zu sein, kostete Gefühle und Kraft. Jamilla und ich hatten darüber gesprochen und waren uns einig, dass er einen buchstäblich aussaugte. Westin besaß keine der Charaktereigenschaften, die wir üblicherweise Menschen zuordnen: Gewissen, Umgänglichkeit, tiefe Gefühle, Mitleid, Mitgefühl. Ihn erfüllte einzig und allein seine Rolle als Sire. Er war ein Mörder, ein Ghul, ein echter Blutsauger.
»Ich werde nicht versuchen, Ihnen mit den üblichen Drohungen beim Verhör Angst einzujagen«, sagte ich ganz ruhig. Westin schien nicht zuzuhören. Gelangweilt? Desinteressiert? Verdammt ausgekocht? Als Sire war er eine ungewöhnliche Person: hochmütig, überlegen, konzentriert und körperlich beeindruckend. Er hatte ungewöhnlich durchdringende Augen. In Santa Barbara hatte er mir den harmlosen Gelehrten vorgespielt, der mir Bücher über Vampire empfahl.
Er legte den Kopf schief und starrte mir in die Augen. Westin suchte nach etwas. Aber ich wusste nicht, wonach. Ich hielt seinem stechenden Blick stand. Das schien ihn zu irritieren. »Leck mich!«, fuhr er mich an.
»Wie bitte?«, fragte ich. »Was geht in Ihrem Kopf vor, Peter? Bin ich vielleicht nicht würdig, Ihnen Fragen zu stellen?« Er lächelte – es lag sogar ein Hauch von Wärme in diesem Lächeln. Er konnte charmant sein, das wusste ich. Das hatte ich in der Bibliothek in Santa Barbara erlebt.
» Falls ich mit Ihnen sprechen würde und falls ich Ihnen alles
offenbaren würde, was ich fühle und woran ich glaube, würden
Sie es niemals verstehen«, sagte er. »Sie wären nur noch mehr
verwirrt als jetzt.«
»Versuchen Sie es trotzdem«, meinte ich.
Wieder lächelte er, schwieg jedoch.
»Ich weiß, dass Ihnen William und Michael fehlen. Sie zeigen es nicht, aber Sie haben die beiden geliebt«, fuhr ich fort. »Eines weiß ich über Sie: Sie sind zu tiefen Gefühlen fähig.« Da nickte Peter Westin – fast unmerklich. Die Geste war königlich. Ja, er vermisste William und Michael. Damit hatte ich Recht. Er war traurig, dass sie tot waren.
Schließlich sprach er wieder. »Ja, Detective Cross, ich fühle viel tiefer , als Sie es sich überhaupt vorstellen können. Sie haben keine Ahnung, wie jemand wie ich denkt.«
Danach schwieg er wieder. Der Sire hatte nichts weiter zu
sagen. Wir waren nur Sterbliche, wir würden ihn nie verstehen.
So ließ ich ihn zurück.
Es war vorbei.
Fünfter Teil
Veilchen sind blau
93
T eilweise fühlte ich mich erleichtert, auf alle Fälle besser. Endlich schien dieser Fall der Serienmorde
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