Alex Cross - Cold
war es vorbei. Bevor Mahoney bei der Tür war, wusste er, dass er einen Toten hinter sich herzog.
Viertes Buch
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NOTWENDIGE ÜBEL
72
»Auf die Zehenspitzen! Genau so. Schulter vor. Gut so. Perfekt. Und jetzt nimm die Coladose in die Hand.«
Ava streckte die Hand aus und nahm die Coladose aus dem Regal, wo ich sie hingestellt hatte.
»Gut. Und jetzt stellst du sie wieder zurück«, sagte ich.
Sie stellte die Dose ab, bevor sie frustriert den Arm sinken ließ. »Ich hab gedacht, beim Boxen geht es ums Schlagen«, sagte sie.
»Was glaubst du denn, was du gerade lernst?«, entgegnete ich. »Noch mal. Aber achte drauf, dass du den Ellbogen eng am Körper lässt.« Ich zeigte es ihr. »Hier, an der Seite.«
»Du musst immer auf die Deckung achten«, sagte Ali und baute sich in der Grundstellung vor ihr auf. Er genoss es sichtlich, einer Dreizehnjährigen erklären zu können, was sie machen sollte. Das schien Ava nichts auszumachen. Nur wenn ich etwas sagte, verdrehte sie ständig die Augen.
»Wie soll ich denn was lernen, wenn ich keine Handschuhe anziehen darf?«
»Du bekommst ja Handschuhe, sobald du so weit bist«, erwiderte ich. »Und jetzt greif noch mal nach der Dose.«
Ich war mir wirklich nicht sicher, ob Boxen für Ava das Richtige war oder womöglich genau das Verkehrte. Aber sie hatte Interesse signalisiert, und ich fand, das war Grund genug, um ihr eine Chance zu geben.
»Wie gefällt es dir auf deiner neuen Schule?«, wollte ich wissen, während ich sie und Ali in die Mitte des Raums dirigierte. Sie wussten, was ich von ihnen wollte, und bauten sich einander gegenüber auf.
Ava hob die Fäuste, die Ellbogen eng am Körper und den linken Fuß vorgestellt. Ali machte es ihr nach.
»Ganz okay. Ms. Hopkins ist nett«, sagte sie.
Das war nun nicht gerade sehr ausführlich, aber es war bei Weitem mehr, als ich bisher von Ava zu hören bekommen hatte. Kinder, die auf der Straße gelebt haben, lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Die einen kennen überhaupt keine Grenzen und geben viel zu schnell viel zu viel von sich preis. Oder sie schotten sich vollkommen ab. Ava gehörte in die zweite Kategorie. Unser Verhältnis war noch nicht besonders konstant. Wir hatten unsere guten, aber auch unsere schlechten Tage.
Ich hätte ihr zu gerne jede Menge Fragen gestellt. Zum Beispiel, was sie da draußen auf der Straße erlebt hatte. Hast du gewusst, dass deine Mom sterben würde? Wann fühlst du dich sicher, Ava? Wer bist du?
Irgendwann würden all diese Fragen gestellt werden. Aber für den Augenblick hielt ich mich an die kleinen, konkreten Dinge wie Schule, Essen, Filme... und Boxen.
Ich ließ die Kinder ein paar Gleichgewichtsübungen machen, ein bisschen Schattenboxen, und dann spielten wir: »Weich dem Sandsack aus«. Das war Avas Lieblingsspiel. Sie ließ sogar ein paarmal eines ihrer seltenen Lächeln sehen, während sie und Ali den Sandsack hin und her schwangen und, immer auf den Ballen, fintierten und beiseiteglitten. Zumindest zwischen diesen beiden entstand so etwas wie eine persönliche Beziehung.
Etwas später kam Jannie die Kellertreppe herab und steckte ihren Kopf unter dem Geländer hindurch.
»Du, Daddy? Mr. Mahoney möchte dich sprechen. Und Nana sagt, dass ihr jetzt lange genug herumgetobt habt. Es ist Zeit fürs Bett.«
Ich warf einen Blick auf den Radiowecker auf dem Fensterbrett. Es war Viertel vor zehn, und am nächsten Tag war Schule. Hoppla.
Was wollte Ned Mahoney um diese Zeit noch von mir?
»Also gut, ihr beiden, jetzt ist Schluss. Der Boxring ist für heute geschlossen«, sagte ich.
Ava hielt den Sandsack mit beiden Händen fest. »Bloß ein bisschen noch«, sagte sie.
»Nein. Du gehörst eigentlich schon längst ins Bett. Und Ali auch. Abmarsch.«
Sie zog eine wütende Grimasse. »Ich brauch keinen, der mir sagt, wann ich ins Bett muss, verdammte Scheiße«, sagte sie. Dann versetzte sie dem Sandsack einen kräftigen Stoß. Ali hatte nicht damit gerechnet und wurde umgestoßen. Während er in Tränen ausbrach, stapfte Ava die Treppe hinauf.
Zumindest so lange, bis ich sie gezwungen hatte, umzukehren und sich zu entschuldigen, zuerst bei Ali und dann bei mir.
»Für diese Woche hast du Boxverbot. Du brauchst eine kleine Pause. So läuft das jedenfalls hier nicht.«
»Mir doch egal«, erwiderte sie in diesem charmanten Ton, den Jugendliche gelegentlich an den Tag legen können. Dann wandte sie sich abrupt ab.
Wie gesagt, gute und schlechte Tage. Manchmal
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