Alexander der Große
in der Praxis versagte, blieb den Bewunderern Alexanders aber immer noch als Idee. Alexander war für sie der Staatsmann,
der zum ersten Mal von einer Einheit der Menschen sprach. Er tat dies in einem Gebet, und es ist wieder Tarn, der glaubt,
dieses habe weder vor noch nach Alexanders Tod seinesgleichen gehabt. 75 Das berühmte Gebet ist freilich nur rudimentär erhalten, seine Quelle unsicher, der genaue Wortlaut selbst nicht bekannt.
Nicht lange nach den Hochzeiten von Susa im Sommer 324 entließ Alexander in der Tigrisstadt Opis rund 10 000 Veteranen in die makedonische Heimat. Nach dem langen Indienzug war dies für die meisten das, was sie ersehnt hatten.
Dennoch kam es unerwartet zu einer neuerlichen Rebellion. Die Veteranen fühlten sich gegenüber den neu rekrutierten Persern
zurückgesetzt und empfanden die Entlassung daher als eine Art Abschiebung. Die Empörung, die sich nun Bahn brach, richtete
sich gegen die Gleichstellung persischer Soldaten und darüber hinaus gegen das Programm der Orientalisierung. Die Makedonen,
die als Herren der Welt in den Krieg gezogen waren, sahen sich nun als Degradierte aus ihm zurückkehren. Nach den Erfahrungen
mit der Meuterei am Hyphasis wich Alexander diesmal nicht zurück. Er war nicht mehr allein auf die makedonischen Truppen angewiesen.
Mitten in den Tumulten ließ er mehrere Meuterer ergreifen und hinrichten, seine Rede an die Veteranen gipfelte in einem knappen
Imperativ: Geht! Nach bewährtem |74| Muster zog er sich danach zurück und war erst wieder zu sprechen, als die Meuterer kapituliert hatten. Es war sein persönlicher
Sieg, den er dann als große Versöhnungsfeier inszenierte, die im gemeinsamen Trankopfer und eben jenem Gebet des Königs gipfelte.
Zum Dank brachte Alexander den Göttern Opfer, denen zu opfern das Herkommen gebot, und hielt ein allgemeines Festmahl. Dabei
ließ er sich in ihrer aller Mitte nieder, die Makedonen um ihn herum, anschließend die Perser und dahinter die nach Rang und
Verdienst besonders geachteten Persönlichkeiten der anderen Völker. Er und diejenigen, die in seiner Nähe waren, schöpften
gemeinsam aus einem Mischkrug und brachten ihre Trankopfer, griechische Seher und persische Magier eröffneten die Zeremonie.
Neben anderem Segen erflehte [Alexander] Eintracht und gemeinschaftliche Beteiligung an der Herrschaft für Makedonen und Perser.
Wie es heißt, nahmen an diesem Opferfest 9000 Menschen teil, die ein und dasselbe Opfer brachten und dazu religiöse Gesänge
anstimmten. 76
Für Tarn war das Gebet von Opis der Höhepunkt in Alexanders Leben, sein Vermächtnis an die Völker seines Reiches. Für ihn
dokumentiert es Alexanders Glauben, als Geschöpfe eines Gottes seien alle Menschen ohne Unterschied zwischen Griechen und
Barbaren Brüder, und die diesem gleichzeitig daraus erwachsene Verpflichtung, der Welt Harmonie und Versöhnung zu bringen
und den Menschen ein Leben in Eintracht (
Homonoia
) zu ermöglichen. 77
Tarn nennt es einen Traum, denn auch er weiß, dass die Mission nicht gelang. Ein Traum muss nicht daran gemessen werden, ob
er sich erfüllt, und so blieb Alexanders (vermutete) Absicht, einen west-östlichen Kosmos ohne Grenzen zu schaffen die Grundlage
für ein positives Bild in der Moderne.
Alexanders (oder Tarns) Traum stützt sich auf sechs Worte:
Homonoia te kai koinonia tes arches
(„Eintracht und gemeinschaftliche Beteiligung an der Herrschaft“). Sie enthalten eine Idee, die es schon lange vor Alexander
gab. Bereits im 5. Jahrhundert formulierte der |75| Sophist Antiphon, von Natur aus seien alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen. 78 In hellenistischer Zeit forderte der Stoiker Zenon, alle Menschen für Mitbürger und Landsleute zu halten und nach einer Ordnung
zu leben wie die Herde auf der Weide. 79 Das waren schwerlich Alexanders Gedanken. Was er entgegen Tarns wohlmeinenden Vermutungen bezweckte, lässt sich am ehesten
aus dem Kontext erkennen. Susa und Opis markieren die Zeit einer neuen Herrschaftskonzeption. Der König hatte sich von makedonischen
Vorstellungen gelöst, er plante ein neues Großreich, das sich im Osten nur durch die Einbeziehung der einheimischen Eliten
regieren ließ, und das hieß Orientalisierung in Administration und Militär. Dazu bedurfte es ebenso der makedonischen Truppen
und des makedonischen Führungspersonals. Wie sich aus der Sitzordnung des Versöhnungsfestes von Opis
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