Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
irgendwann, die See, das malmende Meer– das Mächtige Große Grüne, wie die Ägypter sagen.«
» Wem gehört die See?« Alexanders Augen sind hell und weit offen.
Artabazos lacht; der schwarze Hengst schnaubt leise. » Die See gehört keinem. Niemand besitzt die See, aber die See besitzt viele gute Männer und feine Schiffe. Hier, in der Nähe eurer Küsten, segeln und rudern die Athener darauf herum. Und natürlich ein paar Händler. Im Süden, weit von hier, fahren die Schiffe der Phöniker; sie dienen dem Großkönig. Im Westen, weit, weit fort, fahren die Handelsschiffe und Kriegsruderer des mächtigen Karchedon.«
» Wem gehört Karchedon?«
» Karchedon? Es wurde besiedelt, gegründet, heißt es, von Leuten aus Tyros, aber es gehört nicht den Tyrern. Karchedon besitzt weite Teile des nördlichen Libyen und der großen Inseln der Sikelioten und Sardonier und Kyrner. Aber es gehört nur sich selbst.«
» Wenn alles andere entweder den Hellenen oder den Persern oder meinem Vater Philipp gehört, muß Karchedon gewaltig sein. Und was liegt jenseits des Meeres?«
» Jenseits der See? Viele fremde Länder, wunderbar zu betrachten und gefährlich zu betreten. Das uralte Ägypten– aber davon hast du gehört, nicht wahr?«
Alexander nickt; die Augen verengen sich. » Dort herrschte einmal Ammon, der auch Zeus ist. Seine Söhne– seine Gefäße waren die Pharaonen.«
Artabazos runzelt die Stirn. » Das mag so sein.– Dann gibt es dort Arabien, mit Palmbäumen, die feierlich den Kopf neigen, wenn der Wind ihnen Nachrichten aus der glühenden Wüste bringt. Damaskos. Und Babylon, die älteste Stadt, die alle Geheimnisse hütet und sich nicht einmal erinnern kann, sie je vergessen zu haben. Große Ströme voll silbriger Fische. Dann andere Flüsse, noch gewaltiger, mit Krokodilen und Wasserschlangen. Dahinter liegt Iran– das große heilige Persien; dort ächzen die Stürme zwischen den höchsten Gipfeln, die selbst im Sommer von Schnee bedeckt sind. Dort gibt es unendliche Steppen im Norden, Bergketten, dazwischen weite felsige Hochebenen und Wüsten aus Salz; und die umfriedeten Gärten, paradeisos genannt, wo der König der Könige in seinen Träumen auf die Jagd geht. Mitten in den Gärten steht immer ein schlichter Altar und ein Haus des Heiligen Feuers, das unsere Priester hüten. Tausend verschiedene Völker mit verschiedenen Sprachen und alten Göttern– Mithras und Anahita, deren Verehrer unsaubere Dinge tun und im Rausch einen Stier töten. Dahinter liegen die tödlichen Berge, die Iran von Indien trennen. Und Indien, unermeßlich und geheimnisvoll. Mit seltsamen Gebräuchen und seltsamen Göttern und sehr seltsamen Menschen, die am Rand der Welt leben und diesen für die Mitte halten. Sie haben dort Elefanten, groß wie Häuser, Tiere wie ein wandernder Berg, mit zwei Schwänzen– einer vorn, einer hinten. Es gibt dort viele bunte Vögel, sie singen und kreischen nicht nur, einige können sogar das Sprechen lernen; und Vögel, die ihre Nester bauen, indem sie große Blätter zusammennähen. Tausend Flüsse gibt es dort, mit Silber und Gold, und Tempel für tausend Götter. Und noch weiter fort liegen wunderbare Inseln mit edlen Steinen und schrecklichen Ungeheuern.«
Alexanders Wangen glühen, aber in seinen Augen steckt die Wurzel eines Schmerzes, einer langsam wachsenden Qual, die Jahre braucht, um zu reifen. » So viele Länder… so viele Menschen. Und sag, haben sie alle– eine Seele?«
Artabazos seufzt. » Eine Seele?«
Alexander nickt, fast verbissen. » In der Brust soll sie sein, sagen einige; andere behaupten, sie sei im Samen. Aber in meiner Brust ist Leere, die immer danach schreit, gefüllt zu werden, vor allem nachts; so laut schreit sie, daß ich hochfahre und oft lieber gar nicht einschlafen mag. Und wenn die Seele im Samen ist, dann haben Frauen keine Seele, und auch Jungen nicht, denen der Samen noch fehlt, nicht wahr?«
Artabazos hält die Zügel mit der Linken und legt den rechten Arm um den Jungen, als wollte er ihn vor etwas schützen. Oder einfach an sich drücken. » Es gibt da viele Meinungen. Jene, die an Götter glauben und daran, daß nach dem Tod eines Menschen noch etwas mit ihm geschieht, glauben auch an eine Seele. Andere sind überzeugt, daß der Mensch erlischt wie eine Flamme– vergeht wie eine Pflanze. Daß nichts bleibt.«
» Wenn es sie gibt, die Seelen– könnte man sie dann stehlen?«
Artabazos reibt seinen Bart, sein Kinn über den unbedeckten
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