Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
streifte den Chiton über. Er beugte sich vor, stützte sich mit dem Ellenbogen auf Hephaistions Schulter, mit der anderen Hand auf die Bordwand und starrte die Halme an, dann das Wasser des Bachs, der sich wenige Schritte entfernt mit dem Meer vermischte.
» Es fließt. Alles fließt. Alles ist dauernd im Wandel. Vielleicht steigen wir ja nicht nur nicht zweimal in den selben Fluß– können wir zweimal ins selbe Boot steigen?«
Hephaistion blickte zu ihm auf, mit einem traurigen Lächeln. » Du klingst betrübt, Lieber. Was ist los?«
Alexanders Stimme war Jahrhunderte entfernt. » Es ist feige, den Tod durch Wasser zu fürchten. Oder den Tod in der Schlacht. Den Tod überhaupt– man kann ihn immer sehen, in welken Blumen und zahnlosen Greisen. Aber ist es auch feige, wenn einer etwas fürchtet, was er nicht sehen kann?«
Hephaistion berührte Alexanders Rücken. » Was ist es, das du nicht sehen kannst, Achilles?«
» Irgendwo ist da ein Band– ein Saum– eine Kante oder Schneide auf Dunkelheit. In meinem Kopf. Außerhalb meiner Sichtweite. Dunkelheit, die immer näher zu kommen droht.« Er setzte ein schräges Lächeln auf. » Manchmal spüre ich, daß ich nicht schlafen darf, weil mich die Dunkelheit einholen und umfangen wird, wie eine Falle, während ich schlafe und sie nicht vertreiben kann.«
Hephaistion blickte bestürzt. » Aber… dieses Dunkel… weißt du, woraus es gemacht ist? Ist es ein Dunkel, das aus Fieber entsteht, aus Trunk, aus Erschöpfung, aus Wahnsinn– welche Art Dunkel ist es?«
» Ich weiß es nicht– noch nicht. Das Dunkel aus zu viel Licht, die Blindheit der zu deutlichen Sicht?« Er zuckte mit den Schultern, richtete sich auf und starrte wieder in den Bach. » Und alle reden darüber, aber sie geben dem Dunkel andere Namen. Verschiedene.«
» Wer ist das, sie alle? Was für Namen?«
Alexander summte leise, dann pfiff er, als ein paar Vögel aus dem Ried aufflogen. Er schaute ihnen nach, beinahe neidvoll. » Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach alles fallenlassen und fliegen, wie diese Vögel. Dich und die anderen mitnehmen, Krateros, Perdikkas, Ptolemaios, Erigyios, Leonnatos, Eumenes, du weißt schon, die ganze Bande, einfach alles fallenlassen und wegfliegen, den Wind nach Norden reiten, zwischen den Barbaren versickern, irgendwas.«
Hephaistion nickte. » So ähnlich fühle ich mich manchmal auch. Bloß…«
Alexander seufzte. » Ich weiß; es ist darin keine Tugend. Ein Feigling kann rennen und sich verbergen, aber wir, wir müssen uns den Dingen stellen, sonst entgleiten uns alle Dinge. Und dann ist nichts mehr von uns übrig, was noch wert wäre, versteckt zu werden. Weißt du, ich glaube, dieses Dunkel hat wirklich Namen. Viele. Einer davon ist Schicksal. Moira. Was es schickt, was geschickt wird, was vielleicht in uns angelegt wurde und wächst und ausbricht.«
Hephaistion biß sich auf die Lippe. » Wir tun nichts dazu, können ihm aber nicht entgehen– so?«
Alexander nickte, sehr langsam. » Und dann das Gefühl, alles, das ganze Leben diesem dunklen Wort opfern zu müssen. Das Leben, die Wünsche, die Freunde, die Gedanken, alle Sehnsucht. Eben alles. Erinnerst du dich, wir haben einmal… Oder war das Kleitos? Ich weiß es nicht mehr. Keiner hat mich je gefragt, was ich tun will; alle sagen mir immer, was ich ihrer Meinung nach sein und tun sollte. Philipp will, daß ich seinen Thron übernehme, seine Träume träume, seine Kriege führe, seine Eroberungen vollende, seinen Frieden kröne. Aber jetzt wird er die Nichte von Attalos zur neuen Königin machen, neue Kinder zeugen, vielleicht einen Sohn. Olympias ist aus Epeiros, ich bin eigentlich nur Halbmakedone, diese neuen Kinder werden reinblütige Makedonen sein, verwandt mit einem der wichtigsten Fürsten. Was, wenn… Ah, du weißt schon. Und Parmenion ist in Asien, mit dem halben Heer, um den Boden zu bereiten, die hellenischen Städte zu befreien, die Perser zurückzutreiben. Vielleicht ist gar nichts mehr zu tun übrig, wenn ich… falls ich je König werde. Olympias wollte immer nur ein Werkzeug aus mir machen, Gefäß des Ammon, der auch Zeus ist; etwas, das sie benutzen, verwenden, verbiegen konnte, zu ihrem eigenen Nutzen und ihrer eigenen Macht und ihrem eigenen Ruhm. Aristandros will, daß ich Priester und König zugleich bin, sagt aber, ich lästerte die Götter, sobald ich wie ein Priester denke. Dann gab es da natürlich Aristoteles, und Parmenion, und Antipatros, und, ah,
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