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Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands

Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands

Titel: Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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sich an anderen Orten: in den Höhlen und Hainen. Dort wurden die Priester eingeweiht und ausgebildet, zu denen sie nun gehörte; und von dem, was die Priester erfuhren, gaben sie nur einen winzigen Teil an die Menschen weiter.
    Manchmal, in Momenten der Hellsichtigkeit, wenn sie nach einem Rauschtrank zu schweben meinte oder nach Tagen des Fastens und der Sammlung reglos unter einem Baum kauernd die beschworenen Gestalten sah, begriff sie alles. Dann war sie nicht Priesterin, sondern Teil der Göttin. In lichten Nächten war ihr Verstand ein hoher glänzender Adler, dessen Federn die Sonne nicht sengen konnte. Dann sah sie die Umrisse jenseits der Bilder und Worte und begriff, daß die Mysterien nicht Geschichten von Göttern erzählten, sondern eine dreifach schreckliche schlichte Wahrheit: die Unterwerfung der Natur durch den Menschen, die Unterwerfung der Frau durch den Mann, die Verstoßung der Eltern durch das Kind. Die Große Furchtbare Mutter enträtselt und urbar gemacht; die Rasend Gebärende Tötende gezähmt, daß sie Kinder hütete, während Horos ein Geschlecht männlicher Könige einrichtete; Gorgo Medusa, furchtbare Mutter und Herrin der Schlangen, die den Sohn Perseus den Heros behalten und opfern und in ihrer Höhle bergen wollte, aber Perseus der Sohn der Heros mußte sie töten, um die Meerschlange, die sie war, zu besiegen und Andromeda die Frau zu gewinnen, da er begriffen hatte, daß die Mutter, die Gorgo, nicht Alle-Frau war. Sie kreischte und raste, zerriß sich Kleider und Haut, weil sie nicht gefügige Kuh sein wollte und nicht mehr Ungeheuer, oder vielleicht lieber Ungeheuer denn Kuh, lieber Isis-Gorgo denn Isis-Hathor; und große fruchtbare Jungfrau– nicht keusch, sondern freie Herrin aller Männer statt gefügige Gattin des einen. Sie hoffte, daß der Perseus, der sie befreien und befruchten sollte, um Ammons Sohn und den des Horos zu gebären, seine Gorgo bereits getötet haben würde, und daß der Perseus, den sie austragen mußte, nie eine Andromeda sähe. Daß er Isis-Gorgo, die Schlange und den Vater in einer seiner Gestalten töten würde und Isis-Hathor, die sie nicht sein wollte aber vermutlich würde sein müssen, leben ließe.
    Doch geschahen dann jene seltsamen Dinge, die sie zweifeln ließen, ob wirklich alles so verwickelt-einfach war. Sie lächelte, wenn sie Pilger sagen hörte, die Kabiren, thrakische Zwerge, seien alte Freunde der Großen Mutter, und sie seien dank ihrer Kleinwüchsigkeit immer damit befaßt, in unterirdischen Gängen und Stollen edle Metalle zu suchen, dort, wo kein ausgewachsener Mensch sich noch bewegen könne. Sie lächelte, weil sie wußte, daß die Kabiren Frucht und Phallos waren und die Erde Mutterschoß– aber dann, in einer jener flackernden Nächte, barst der Boden der Höhle, und ein mützetragender Zwerg brachte ihr ungemünztes Gold, das am Morgen zerschmolzen war. Sie lächelte, wenn sie von rasenden Priestern hörte, die der Großen Göttin statt eines Symbols den eigenen Phallos darbrachten– aber dann sah sie im Hain den Lydier, mit dem sie vor Stunden noch über die Götter und ihr Benehmen in den Versen Homers geredet hatte, in Zuckungen und Raserei verfallen, bis er sich schließlich mit einem fischförmigen Messer entmannte, vor ihren Augen, vor den Augen aller.
    Und bisweilen, wenn sie erschöpft dalag, unkeusch jungfräuliche hetaira und Herrin aller Phalloi, benetzt vom Tau des Ägypters, des Hellenen, des Phrygers, des Thrakers, des Babyloniers, des Persers, klammerte sie sich an das Amulett, in dem sie die Vereinigung von Dunkel und Licht, Frau und Mann, Mutter und Vater, Fruchtbarkeit und logos sah. Dann fragte sie sich, warum der Babylonier und der Perser immer schwiegen.
    Die Luft im Raum war schwer vom Geruch der Körper, vom Duft des Rosenwassers und des Rosmarinharzes. Die beiden Fensteröffnungen am Arkadengang waren mit hellen Tüchern verhängt; aus dem Licht des frühen Nachmittags, das den weißen Innenhof der Tempelgebäude füllte, machten sie fleischfarbene Dämmerung.
    Der Ägypter rollte sich an den Rand der breiten Liege, setzte sich und tastete mit den Zehen nach seinen Gewändern. Er hob den weißen Schurz und das lange dunkle Priesterkleid auf. Mit einem immer noch erstaunten Lächeln sagte er über die Schulter: » Auch darin kann ich dir nichts mehr beibringen. Im Gegenteil… Ich danke dir.« Er erhob sich.
    Olympias entfernte das Schwämmchen aus ihrer Scheide, richtete sich auf und streifte die Kette

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