Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
tragischen Begleitumstände berichtet. Bisher hatte es jedoch keinerlei Hinweise gegeben, die uns bei der Identifizierung der zweiten Leiche weiterhalfen.
Auch in Sachen Iva gab es nach wie vor keine Fortschritte. Wir steckten fest. Alle waren gereizt, überarbeitet, frustriert. Jeder wünschte sich nur noch das Ende der ganzen Geschichte herbei, so oder so. Man sehnte sich danach, sich wieder normalen Dingen zuzuwenden wie Körperverletzungen oder einem kleinen Bankraub.
Als die anderen sich erhoben, blieb Balke sitzen. Mir war klar, was jetzt fällig war, und ich fürchtete mich ein wenig davor. Ich hatte inzwischen ein schlechtes Gewissen wegen unserer Einmischung in seine innersten Angelegenheiten.
»Danke«, sagte er zu meiner Verblüffung anstelle des erwarteten Vorwurfs.
»Es tut mir leid. Wir haben es gut gemeint. Wir wollten Ihnen wirklich helfen. Aber es hat ja wohl nichts genützt.«
»Sie haben mir geholfen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.«
»Das heißt, Sie sind jetzt wieder zusammen?«
»Ich weiß jetzt, dass es richtig war, mich von Nicole zu trennen. Seit gestern weiß ich das endlich.«
Ein wenig verkrampft und eine Spur zu lange drückte er meine Hand.
Dann ging er mit nicht ganz sicheren Schritten hinaus.
Am Freitagnachmittag erlaubten mir Muriel Jörgensens Ärzte ein erstes, kurzes Gespräch.
»Fünf Minuten«, erklärte mir eine überaus schlecht gelaunte Stationsärztin mit entzündeten Augenlidern. »Und es bleibt die ganze Zeit über jemand von uns dabei.«
»Ich habe nur zwei einfache Fragen«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Dann lasse ich Ihre Patientin wieder in Frieden.«
»Das kennen wir, das mit den zwei Fragen. Am Ende wird dann wieder eine halbe Stunde draus. Und Sie werden sie auf keinen Fall aufregen, haben wir uns verstanden?«
Muriel Jörgensen lag in einem Einzelzimmer. Eine Menge piepsender, summender und blinkender Apparate stand um sie herum. Ihr schmales Gesicht war fast so weiß wie das Kopfkissen. Immer noch hing sie an Infusionen, die Augen waren jedoch offen, ihr Blick klar, und sie erkannte mich sofort. Das Zimmer war überheizt, aber das musste vielleicht aus medizinischen Gründen so sein.
Natürlich hatte die Ärztin recht, natürlich wurden es mehr als zwei Fragen.
»Sie wissen wirklich nicht, wo Ihr Sohn ist?«, begann ich freundlich lächelnd.
Ihr Blick irrte ab. Erst nach Sekunden, als ich schon dachte, sie hätte mich nicht verstanden, schüttelte sie knapp den Kopf.
Ich trat näher ans Bett, um jede Veränderung ihrer Miene zu registrieren.
»Hat Ihr Mann etwas damit zu tun?«
Dieses Mal kam ihr Kopfschütteln schneller.
»Oder vielleicht Ihr Vater?«, fragte ich, Wort für Wort betonend, als wäre sie schwerhörig. »Hat er Tim aus Versehen getötet? Die Treppe hinuntergestoßen, zum Beispiel?«
Jetzt sah sie mir mit schreckensweiten Augen ins Gesicht.
»Nicht absichtlich natürlich. Ich denke eher an einen Unfall.«
Heftiges, fast panisches Kopfschütteln. Der Krankenpfleger mit der Figur eines Sumoringers stand einen halben Schritt hinter mir. Er räusperte sich vernehmlich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Aber Sie wissen, wo Tim ist, nicht wahr?«
Muriel Jörgensen schloss die Augen und öffnete den schmalen Mund. Ihre Lippen waren farblos und trocken wie Pergament. Sie schluckte dreimal, bis sie einen Ton herausbekam.
»Gehen Sie«, keuchte sie endlich. »Bitte!«
Mein Bewacher brummte etwas, was nicht freundlich klang. Ich hoffte, er würde mich nicht im nächsten Moment am Hosenboden packen und vor die Tür stellen.
Die Patientin hielt die Augen geschlossen und schwieg.
Ich öffnete den Mund zu einer weiteren Frage. Aber dann machte ich ihn wieder zu und ging.
In meinem Vorzimmer erwartete mich Rolf Runkel mit einem Zettel in der Hand.
»Ich hab noch mal recherchiert«, erklärte er stolz. »Ob er’s mit Kindern getrieben hat oder nicht.«
Wir gingen in mein Büro und setzten uns. Runkel zog die Stirn in tiefe Falten, was ihm das Aussehen eines heimwehkranken Rauhaardackels verlieh.
»Eine von den Nutten, mit denen mein Kontaktmann in Manila geredet hat, hat den Jörgensen eindeutig als früheren Kunden identifiziert. Er sei vor zwei, drei Jahren ein paar Mal bei ihr gewesen.«
»Und wie alt ist die Dame?«
»Achtzehn. Oder neunzehn. Die wissen das da unten oft selber nicht so genau, wie alt sie sind.«
»Das heißt, als Jörgensen ihr Kunde war, war sie sechzehn.«
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