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Alias XX

Alias XX

Titel: Alias XX Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Ross
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Inch wies mit dem Kopf zur rot-goldenen Treppe. »Sie können sie ja selber fragen, wollte ich sagen.«
    Audrey kam die letzten beiden Stufen herunter. Es war keine Viertelstunde vergangen, und sie war völlig verwandelt. Ihr glänzendes schwarzes Haar war eine seidene Krone, ihr Gesicht gerötet. Die Lippen waren voll, ebenso die hohen Brüste, die Taille maß nur eine Handbreit, und die Hüften schimmerten unter dem engen Kleid. Tom ertappte sich dabei, wie er sie anstarrte, und bemerkte schließlich, dass Inch endlich den Mund hielt. Die beiden Männer erhoben sich und betrachteten das Mädchen. Das war besser als jede Aufführung auf der Bühne. Nur Harriet erhob sich nicht und starrte Audrey auch nicht an, sondern fragte sie, warum sie Earl gesucht habe. Audrey antwortete, sie habe sich über ihn geärgert.
    »Worüber?«, fragte Harriet.
    »Eine private Angelegenheit.«
    »Und um welche private Angelegenheit hat es sich dabei gehandelt?«
    »Eine private Angelegenheit, die auch weiterhin privat bleiben wird«, sagte Audrey.
    »Also!«, sagte Inch, der nervöse Blicke zu den Frauen warf.
    »Ich hab Earl ›Gent’s Apparel‹ sagen hören. Mehr hab ich nicht aufgeschnappt.«
    »›Gent’s Apparel …‹« Tom klopfte mit dem Finger gegen sein Glas. »Und sonst nichts?«
    »Moment«, sagte Audrey. »Einen Moment. ›Gent’s Apparel‹?«
    »Hat mich an Hyde Street erinnert«, sagte Inch, »wegen Pongo McCormick.«
    »Erinnern Sie sich noch an meine Lektionen, Tom? Wie man in drei Tagen Amerikanisch lernt?« Audrey legte Inch die Hände auf die Augen. »Ich hab eine Idee.«
    Sie beugte sich zu Tom hinüber und flüsterte ihm ins Ohr. Er brauchte einen Moment, bis er kapierte, was sie von ihm wollte. Er schüttelte den Kopf. »Es kann doch nicht so einfach sein.«
    »Und Sie müssen nuscheln«, flüsterte sie.
    »Tolles Angebot, Puppe«, sagte Tom mit breitestem Brooklyner Akzent. »Aber ich hab da noch ’ne Verabredung am Regent’s Canal.«
    Audrey nahm die Hände von Inchs Augen. »Na, Inch, kam Ihnen das bekannt vor?«
    »Hab noch ’ne Verabredung im ›Gent’s Apparel‹«, sagte Inch. »Komischer Zeitpunkt, da an die Verbesserung seiner Garderobe zu denken, auch wenn ich den Vorsatz gutheiße. Würde es Ihnen nun was ausmachen, mir zu sagen, was das alles soll? Ich meine, ist mir ein Vergnügen, wirklich reizende Gesellschaft, immer sehr zu Diensten, aber Sie sind ja alle vollkommen durchgedreht.«
    »Regent’s Canal«, sagte Tom.
     
    Sondegger war flüchtig mit der Gegenüberwachung beschäftigt, als Tom und Harriet Wall aus dem Waterfall auftauchten. Der Kreidekünstler war verschwunden, fortgejagt vom Regen. Der große Mann allerdings war noch da, genau wie jener am Laternenpfahl, der in seinen Zähnen gestochert hatte. Einer nach dem anderen folgten sie Wall. Sondegger folgte den Verfolgern. Er würde ihm ins Ohr flüstern und gleich wieder verschwinden.
     

30
 
5. Dezember 1941, Nachmittag
    Tom zog den Verband fester, als er mit Harriet die Baker Street überquerte. Irgendwas stimmte mit seiner Hand nicht, der dumpfe Schmerz war mittlerweile zu einem scharfen Brennen geworden, aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Himmel war eintönig grau, es nieselte – ein hoffnungsloser Himmel für eine hoffnungslose Aufgabe.
    Der Regent’s Canal war insgesamt fünfzehn Kilometer lang, er lief durch drei Tunnels, die Straßen unterquerten, und ein Dutzend Schleusen, an deren Ende jeweils Schleusenwärter wohnten. Hunderttausende Tonnen an Ladung wurden jedes Jahr auf dem Kanal von Treidelpferden oder Dampfschleppern transportiert. Die Route erstreckte sich vom Paddington Basin zum Regent’s Park. Davor allerdings teilte sich der Kanal, ein Arm zog sich nach Süden zu dem von Häusern und Geschäften umgebenen Hafenbecken des Cumberland Market, der andere verlief nach Osten, vorbei an Islington und dem Victoria Park, um dann in südliche Richtung nach Stepney und Limehouse und dem Regent’s Canal Dock abzuzweigen.
    »Fünfzehn Kilometer.« Tom trat vom Bürgersteig in eine Pfütze. »Es ist fast zwei Wochen her, dass sich Earl zum Kanal aufgemacht hat – wenn er es denn getan hat. Und wir sollen dort seine Spur aufnehmen?«
    Harriet strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte kaum etwas gesagt, seitdem sie das Waterfall verlassen hatten, war sehr in sich gekehrt und mehr als besorgt: Sie hatte Angst.
    »Earl ist wie eine Katze«, sagte Tom, um sie zu

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