Alias XX
dem leeren Haus und dem leeren Büro. Aber wohin verschwunden? Warum? Und wie konnte Tom ihn finden, wenn die Briten und der COI dazu nicht in der Lage waren?
»Sind Sie bereit für das Täuschungsmanöver, Tom?«, fragte Davies-Frank. »Wenn Sie uns helfen, werden wir Earl finden und ihn vor Gericht stellen.«
»Jetzt lügen Sie, oder?«
»O ja. Wir werden ihn finden – darauf haben Sie mein Wort. Aber ihn vor Gericht stellen?« Davies-Frank drückte seine halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Nein. Er hatte nichts mit Kreta zu schaffen.«
»Sie wissen einen Scheiß über Kreta.«
»Ich weiß, dass Sie Ihren Trupp verloren haben. Und ich weiß, dass Earl nichts damit zu tun hatte.«
»Aber Sie werden mich zu ihm führen?«
»Richtig.«
»Dann schießen Sie los«, sagte Tom. »Was wollen Sie?«
Was wollte er? Davies-Frank fiel es schwer, darauf zu antworten. Außer dass der Einmarsch in Polen rückgängig gemacht, Hitler wieder abgewählt und das Abendessen mit Joan und den Zwillingen nicht gestört werden sollte? Er sah Tom in die unruhigen Augen. Der Amerikaner stand neben sich, er war verwundet – dennoch hatte er noch etwas Gefestigtes in sich. Vielleicht saß vor ihm nur der müde Abklatsch des Mannes, der Tom einst gewesen war, aber Davies-Frank vertraute seinem Eindruck. Er wollte Tom. Zunächst, um Informationen aus Sondegger herauszuholen, dann, um den Nazi-Agenten zu töten. Davies-Frank war von Sondegger ebenso fasziniert wie abgestoßen – und er hatte Angst vor ihm. Er hatte allen Grund, Angst zu haben. Tausend Menschen, die er nie zu Gesicht bekommen würde, müssten sterben, wenn er versagte. Also würde er nicht versagen. Nicht bei Sondegger, nicht bei Tom. Aber jemanden vom Krankenbett zu rekrutieren erforderte eine andere Vorgehensweise – jedenfalls eine andere als jene, die bei ihm angewandt worden war. Davies-Franks Vater war Dean in Oxford gewesen. Ein Mann von enormer Intelligenz, dem sein ebenso enormes Ego allzu oft im Weg stand. Bei seiner Pensionierung hatte er verkündet, dass ihn nun nichts mehr aus seiner Bibliothek vertreiben könnte. Als Highcastle ihn wegen des Zwanziger-Komitees kontaktierte, war er seinem Schwur treu geblieben und hatte abgelehnt. Aber, hatte er gesagt, er habe etwas Besseres anzubieten: seinen Sohn.
Also wurde Rupert Davies-Frank ein Besuch abgestattet. Ein Pochen an der Tür, und Highcastle hatte davor gestanden. Er hatte den Hut gelüpft und ihn finster angesehen – ein stämmiger Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar.
»Rupert Davies-Frank?«, hatte Highcastle gefragt, obwohl er sich natürlich bereits eingehend mit ihm beschäftigt hatte.
»Ja. Was kann ich für Sie tun?«
»Der Dean schickt mich.«
»Mein Vater?«
Highcastle hatte genickt.
»Ein Jammer.«
Highcastles Blick wurde noch finsterer. Er starrte Davies-Frank an und sagte: »Sie werden es machen.« Und durch eine Art alchimistischen Impuls, der Klassen- und Altersunterschiede und ihre gegensätzlichen Charaktere überwand, begründeten sie in diesem Augenblick ihre Partnerschaft. Die Aufgaben des Zwanziger-Komitees waren mit dem anhaltenden Erfolg exponentiell gewachsen. Jeder zusätzliche Agent stellte einen weiteren Komplikationsfaktor dar. Wenn ein einziger Agent einem banalen Punkt einer längst vergessenen Tatsache widersprach, konnte dies das gesamte System zum Einsturz bringen. Jede Nachricht, jeder Fakt, jede Meinung musste überprüft und gegengeprüft werden. Jeder Punkt musste nicht nur glaubwürdig klingen, sondern auch mit allen anderen gefälschten Tatsachen – den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – übereinstimmen. Sie mussten den Nazis ein durcheinandergewürfeltes, aber perfektes Puzzle liefern und darauf vertrauen, dass die Analytiker der Abwehr es selbst zusammensetzten und es als ihre Arbeit ansahen.
Den Nazis durften nie Zweifel an der Integrität ihres britischen Geheimdienstnetzes kommen. Auch wenn dies hieß, dass man Gelegenheiten, sie in die Irre zu führen, ungenutzt verstreichen ließ, dass man Verluste an Soldaten und Zivilisten, an Material und Moral in Kauf nahm. Sie durften keine Zweifel hegen. Das Zwanziger-Komitee wollte keine schnellen Erfolge auf Kosten der zukünftigen Integrität des Netzes.
Dahinter stand der begründete Glaube, dass der Tag kommen würde, an dem das gesamte Netz, zentral gesteuert, zum vernichtenden Schlag gegen die Nazis ausholte – der, zum perfekten Zeitpunkt geführt, die
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