Alice@Hollywood
von 78 Dollar pro Nacht absolut gerecht. Ich entscheide mich spontan für das einzelne Bett direkt unterhalb der Klimaanlage. Bleibt für Nina die obere Etage im Hochbett, da Ruth ganz plötzlich unter Höhenangst leidet. Immerhin kann man von allen drei Liegepositionen aus sowohl den Fernseher als auch die Backsteinfassade des gegenüberliegenden Gebäudes sehen. Zu allem Überfluss gelangt man von unserem Zimmer direkt in ein eigenes Bad. Natürlich nur, wenn man es versteht, sich zwischen Kleiderschrank und einem speckigen Nussbaumschreibtisch hindurchzuzwängen. Nach 24 Stunden »on the road« wollen Ruth und Nina ein Nickerchen machen. Ich fühle mich in erster Linie verschwitzt und verschwinde unter der Dusche. Der Brausekopf ist auf einer Höhe von einssiebzig fest in der Wand installiert. Ein harter Strahl trifft mich zwischen den Schulterblättern, gefolgt von ein paar scharfkantigen Kalkkörnchen, die das Wasser aus der Öffnung am Schlauchende herausgeschleudert hat. Als ich endlich eine optimale Warm-Kalt-Mischung an den beiden verrosteten Hähnen eingestellt habe, beginne ich diesen wohligen, privaten Moment zu genießen. Meine Gedanken wandern, wie sollte es anders sein, zu Steve. Nach dem hausgemachten Frust der letzten beiden Tage, angeheizt von den Parolen meiner Freundinnen, verlasse ich nun langsam wieder den »Männer-sind-Schweine«-Pfad. Was ist, wenn Steve etwas zugestoßen ist? Es muss einen Grund geben, warum er mich nicht über seinen Umzug informiert hat. Womöglich ist er entführt worden! Sicher, das könnte es sein. Steve war schon immer ausgesprochen liberal in seinen politischen Ansichten. Er hat sogar einmal in einer Bar zu mir gesagt; »Ich finde auch nicht alles gut, was unsere Regierung so macht !« Seit ich von Mulder und Scully weiß, wie das FBI tickt, würde es mich nicht wundern, wenn sie meinen Freund ad hoc zum Staatsfeind deklariert hätten. Er sitzt garantiert irgendwo in einer kargen, mit gelben, abgesplitterten Fliesen gekachelten Zelle und wird mit eiskaltem Wässer gefoltert.
»Ahhhh!« Mit einem Satz bin ich aus der Dusche.
»Sorry !« , ruft es durch die dünne Wand.
Anscheinend grenzt das Nachbarbad an unseres. Die Lady von 705 hat mir soeben das warme Wasser abgegraben. Steves Fall für Amnesty kann warten. Es gibt im Moment Wichtigeres. Ich bin nackt, tropfe, und mir ist kalt. Nach ein bisschen Rumjammern entscheide ich aber doch, nicht im Selbstmitleid zu vergehen, sondern mich abzutrocknen. Dann wähle ich die unschlagbare Kombination Jeans und T-Shirt. Meine Haare haben dafür, dass sie noch leicht feucht sind, erstaunlich viel Volumen. Mein Spiegelbild schätzt mich auf Mitte zwanzig. Studentin, die es gerade hinter den Gymnastikmatten mit dem Quarterback der hiesigen Footballmannschaft getrieben hat. Ich zwinkere meinem Spiegelbild zu. »Gut gemacht !« , dann gehe ich zurück in den Nebenraum. Ruth kann nicht schlafen und hat inzwischen erneut bei der Airline angerufen. Man versichert ihr, dass das Gepäck noch heute Abend hier im YMCA abgegeben wird. Endlich mal eine positive Nachricht. Sie pfeift munter »Down-town« vor sich hin. Auch Nina hat den toten Punkt überwunden und erfreut sich bester Laune. Sie hat bei der Inspektion ihres Schlafplatzes ein »Big Dick«-Magazin unter der Matratze entdeckt. Nackte Männer in unglaublichen Posen.
»Wow !« , entfährt es ihr, als sie das Centerfold ausklappt, »das sind gut und gerne dreißig Zentimeter!«
Fasziniert blättert sie weiter. Ruth bedient sich freizügig aus Ninas Kleidersammlung und entscheidet sich für Ninas Lieblingsbluse. Keine Reaktion. Erst unsere Drohung, ihr nichts zu essen mitzubringen, falls sie vorhat, die nächsten Tage im Zimmer zu bleiben, veranlasst Nina, das Heftchen beiseite zu legen.
Es ist Nachmittag, als wir auf unsere Erkundungstour durch Chicago gehen. Außer einem Stückchen Kölner Dom, einzementiert in der Fassade des Hauptgebäudes der Chicagoer Tageszeitung, finden wir nichts Kulturelles, was uns wirklich begeistert. Sicher, die Architektur ist beeindruckend und die Skulpturen von Picasso, Miro oder Chagall machen schon was her. Doch was uns am meisten auffällt, sind die enorm vielen gut aussehenden Männer in perfekt sitzenden Anzügen. Genau die Art von Businesstypen, die Ruth in Deutschland nicht mal mit dem Hinterteil ansehen würde. Was daran liegen mag, dass die Kerle hier das sind, was sie scheinen. Und zu Hause scheinen solche Typen eben nur. Die
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