Alice at Wonderland
nachdenke, ob ich große Teile meines Lebens tatsächlich von Werbung beeinflussen lasse, bringt mich das Telefon auf den Boden der Realität zurück. Ich schrecke hoch. Das Büro. Aber nicht heute. Nicht an meinem freien Tag, nicht mit mir.
»Hier ist der Anschluss von Alice ...« - mein Band geht ran. Darauf kann ich mich verlassen. Wenn ich keinen Bock auf Anrufe habe, geht mein Band ran. Ich wüsste nicht, was in meinem Leben sonst noch so zuverlässig ist wie der AB. Und ich überlege, wie ich ihn dazu kriegen kann, noch andere Dinge für mich zu übernehmen. An die Haustür gehen, zum Beispiel. Oder einkaufen, oder mit Nina zu telefonieren ...
»Hallo, Alice! Hier ist Nina. Ich weiß, dass du da bist. Du hast heute einen freien Tag. Also geh ran!«
Mist. Ich musste wohl geplappert haben. Was bleibt mir also anderes übrig. Ich greife zum Hörer und verspiele damit die Chance auf Ruhe und Frieden. Mal wieder ein Buch lesen, eine Gesichtsmaske auflegen und am Nach mittag auf dem Sofa liegen und blöde Talkshows gucken.
»... und du hast echt sonst niemanden erreicht? Was ist mit Ruth?«, wimmere ich mit dem letzten Fünkchen Hoffnung ins Telefon.
Vergebens. Nina hat alles versucht, und ich habe die Arschkarte. Ich lasse mich breitschlagen, an diesem Mittwoch, an meinem Mittwoch, an meinem freien Mittwoch, auf Thorben-Hendrik aufzupassen. Thorben-Hendrik ist sechs Jahre alt und Ninas Unfall von einer Absinth-Party, die Markus damals veranstaltet hat.
»Nix ist besser als Absinth«, hat Markus immer gesagt. Damit legt man jede flach. Oder man schneidet sich ein Ohr ab. Je nachdem, wie man veranlagt ist. Markus ist das klassische Großmaul. Fünfzig Prozent seiner Geschichten sind komplett erfunden, und die andere Hälfte ist maßlos übertrieben. Dahinter kommt man allerdings erst, wenn man ihn etwas besser kennt. Ansonsten versteht er es äu ßerst geschickt, sich zu verkaufen. Bei Nina jedenfalls hat das Aufplustern seiner Schwanzfedern damals hervorra gend geklappt. Was Markus übrigens selbst am meisten überrascht hat. Denn obwohl alle seine Kumpels bis heute der festen Überzeugung sind, mit Absinth habe Markus schon jede Menge Frauen flachgelegt, war Nina tatsäch lich die einzige.
Und als Thorben-Hendrik unterwegs war, haben Markus und Nina geheiratet. In Las Vegas. In der Ho neymoon-Wedding-Chapel. Ein Chor von fünfzehn El vis-Imitatoren hat gesungen, hundert weiße Tauben sind aufgestiegen, und am Abend nach der Hochzeit hat ein Multimillionär Markus eine Million Dollar für eine Nacht mit Nina geboten. Aber Markus hat abgelehnt. Das ist zumindest die Geschichte, die seine Kumpels bis heute glauben. Und Nina ist schlau genug, alle Wahrheiten in einem Bankschließfach zu deponieren und zu schweigen. Schließlich hat Markus eine Menge Kohle, und man weiß ja nie, wie lange so eine Ehe hält...
Ich habe noch eine halbe Stunde bis Thorben-Hendrik. Genug Zeit für eine weitere Tasse Kaffee und einen Blick in die Amica. Der Countdown tickt, und ich will die letz ten dreißig ... neunundzwanzig Minuten meines freien Tages nutzen.
Ich erfahre, dass man Parfüm auf seinen Nagellack sprü hen soll, solange dieser noch feucht ist, und dass die biologische Uhr der Frauen, die heute zwischen dreißig und vierzig sind, langsamer läuft als die der Frauen, die vor zwanzig Jahren zwischen dreißig und vierzig waren. Ich
stutze. Mir wird klar, was das für mich bedeutet: Ich muss den Artikel nochmal lesen, um zu verstehen, was damit gemeint ist. Ich nehme an, man wollte darauf hinaus, dass die Frauen in den 70ern wesentlich jünger waren, wenn sie ihr erstes Kind bekamen. Was ja auch Sinn macht, schließlich ist das schon mehr als ein Vierteljahrhundert her - natürlich waren die da jünger.
Meine Tante zum Beispiel war zwanzig, als sie ihr erstes Kind bekam. Sie musste sich nicht zwischen Karriere und Familie entscheiden. Diese Entscheidung hat ihr der Typ abgenommen, weil er sie geschwängert hat. Der ist übri gens heute noch der beste Kumpel meines Onkels. Da mals war es ja auch das höchste Glück für eine Frau, eine Familie zu gründen.
Ich lehne mich, so gut es ohne umzufallen geht, auf dem Küchenstuhl zurück und beginne zu träumen. Ich ertappe mich dabei, wie ich in Gedanken mit meinen vier Kindern im Garten spiele und mein Mann, in rosa Kittelschürze gekleidet, die Rasenkantenschere repariert. Und ich ertap pe mich dabei, wie ich meinen Kaffee in die Untertasse fülle und Zuckerwürfel darin
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