Alice Baker: Mein Leben in der Aryan Brotherhood
Schule ginge. Wie ging es meinem Vater? Würde er meine Tragödie überleben? Woher wusste ich, dass er nicht grade jetzt vollgedröhnt in einer Gosse lag, vom Kummer zerfressen? Ich wurde fast wahnsinnig bei diesen Gedanken. Aber verstehen Sie, ich konnte meine Gedanken nicht abschalten. Ich war 24 Stunden am Tag alleine mit mir und meinen Überlegungen, isoliert in völliger Dunkelheit. Nach einiger Zeit hatte ich erkannt, dass ich meine dritte Lektion gelernt hatte. Hoffnung ist dein Feind. Hier drin kannst du nur überleben, wenn du von Tag zu Tag lebst, so wenig wie möglich nachdenkst und alles andere vergisst. Das war die harsche Realität, mit der ich leben musste. Das einzige, was mir helfen konnte, waren tägliche Routinen. Jeden Morgen machte ich einen Spaziergang. Drei Schritte nach vorn, umdrehen, vier Schritte zurück. Das wiederholte ich etwa hundertmal und setzte mich dann wieder hin.
Im Dunkeln hörte ich den Ratten zu, wie sie die Reste meiner Mahlzeit verspeisten. Ich hatte mit den Ratten eine Vereinbarung getroffen. Wenn ich in meiner Zelle umherlief, verschwanden sie. Wenn ich auf meiner Pritsche lag, dann liefen sie auf dem Boden herum. So einfach war das. Man gibt Respekt und man bekommt Respekt. Immer wenn die Ratten verschwanden, wusste ich, dass sich jemand meiner Zelle näherte. Es war dann an der Zeit, meine Augen zu schließen.
Nach 30 Tagen in diesem Rattenloch hörte ich eine Stimme. „Johnson, packen sie ihr Zeug zusammen, sie kommen raus.“
„Na klar“ antwortet ich. „Können sie das Licht ausschalten, wenn sie gehen?“
„Nein, Johnson, das ist kein Witz. Sie kommen raus und werden nach San Quentin verlegt.“
Bam. Vom Regen in die Traufe.
VOM REGEN IN DIE TRAUFE
Nach nicht mal zwei Monaten in Soledad saß ich mal wieder in einem Gefangenentransport, diesmal direkt zum „Großen Q“. San Quentin war neben Folsom einer der zwei härtesten Knäste in Kalifornien. Schuld daran war die Entscheidung der Gefängnisbehörde, die schlimmsten Gefangenen nicht mehr auf alle möglichen Gefängnisse aufzuteilen. Mörder, Lebenslängliche, Gangmitglieder und andere „Problemkinder“ kamen alle nach Quentin oder Folsom. Die Regierung wollte alle faulen Eier in zwei netten kleinen Körbchen haben. Und das war ihnen auf wunderbare Art gelungen.
Abends, um etwa halb sieben, stoppte der Transporter vor meiner nächsten Station, meiner neuen Heimat auf unbestimmte Zeit. Es hatte angefangen zu regnen und es wirkte nicht so, als ob es in absehbarer Zeit aufhören würde. Der ganze Knast war auf einer Halbinsel gebaut, auf deren linker Seite ein riesiges Zellenhaus stand. Daneben konnte ich durch den dunklen Regen einen mittelalterlich wirkenden Turm erkennen. Später stellte sich raus, das dies der wichtigste Wachturm der Anlage war, das Waffenarsenal.
Am Haupttor angekommen, mussten wir den Bus verlassen. Weil unsere Fußfesseln zu kurz waren, um die letzte Stufe aus dem Transporter zu nehmen, wurden wir für einen kurzen Moment davon befreit.
Auf den Wachtürmen um uns herum beobachteten uns Polizisten mit Sturmgewehren. Bis kurz vorher hatten sie noch Schrotflinten benutzt. Aber Schrotflinten waren nichtwirklich dazu geeignet, angreifende Insassen zu stoppen. Das mag etwas mit dem Streuwinkel der abgefeuerten Munition zu tun haben, aber ich bin mir nicht sicher.
San Quentin ist etwa 100 Jahre älter als Soledad und in einem dem entsprechenden Zustand. Nachdem man die Formalitäten geklärt hatte, wurde ich in voller Montur über den Gefängnishof in den Nordblock gebracht. Der Anblick brachte mich fast außer Fassung. Ich kam mir vor wie ein Zwerg. Das Haus sah aus, wie ich mir ein riesiges Containerschiff vorgestellt hatte. Es war fünf Etagen hoch und so lang, dass man nicht erkennen konnte, ob am anderen Ende jemand stand. Man sperrte mich in einen winzigen Käfig, um mir die Hand- und Fußfessel abnehmen zu können. Die schiere Größe der Anlage war immer noch zu viel für mich. Einfach unglaublich. Das hier war alte Schule, der Spielplatz der großen Jungs. Der ultimative Test für Ehre, Mut und Stärke.
Man brachte mich auf die zweite Etage. Jeder Insasse starrte mich herausfordernd an. Diese Blickfickerei ist Gang und Gäbe in jedem Knast. Irgendwann nimmt man diese Scheiße nicht mehr wahr. Ich glaube, ich starre heute jeden Neuling genauso an. Aber mir fällt es nicht mehr auf, mein Blick ist so geworden. Verstehen Sie, wenn man mit den großen Jungs pissen will,
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