Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Sie aber nicht in der Orthopädie-Station herumlaufen“, ermahnt ihn Alice Bhatti, die gerade mit einer Bettpfanne in der einen und einem blutigen Verband in der anderen Hand den Gang entlangkommt. „Sie sollten Ihre Munition nicht unnütz vergeuden. Dieses Krankenhaus bringt sowieso alle um.“
Teddy sieht, wie die Liebe seines Lebens zu entschwinden und sein Plan am ersten Hindernis zu scheitern droht. Er packt die Mauser, streckt den Arm aus und verstellt ihr den Weg.
Alice sieht ihn zunächst entgeistert und dann gereizt an. „Was wollen Sie denn rauben? Vielleicht den Pisspott hier?“
Die ausgestreckte Mauser hilft Teddy, die Sprache wiederzufinden. „Ich kann so nicht leben. Das Leben ist einfach zu viel für mich.“
„Niemand kann so leben.“ Alice ist nun entgegenkommend und teilnahmsvoll. „Wenn diese billigen Pistolen Sie nicht umbringen, dann bestimmt die Boldabolic-Pillen, die Sie ständig schlucken. Suchen Sie sich doch eine Stelle als Trainer oder Sportlehrer. Oder machen Sie ein Diplom als Krankenpfleger, dann können Sie hier arbeiten. Krankenpfleger werden immer gesucht. In manche unserer Abteilungen trauen sich nicht mal die Ärztinnen. Die Charya-Station zum Beispiel hat keinen …“
Teddy hört kaum zu, das Wort „Sportlehrer“ bringt ihm jedoch eine längst vergessene Kindheitserinnerung ins Gedächtnis – ein sehr großer, dicker Sportlehrer packt ihn an den Ohren, schleudert ihn herum, wirft ihn zu Boden und geht lachend davon. Die anderen Kinder tanzen um ihn herum. Statt Hosenscheißer nennen sie ihn von nun an Jojo. Teddy legt die Pistole an Alice Bhattis Schläfe und stößt in seiner singenden Kleinmädchenstimme hervor: „Sag mir einen guten Grund, warum man hier nicht schießen sollte? Warum sollte ich dich nicht auf der Stelle erschießen und meiner Not ein Ende machen?“
Und meiner, hätte sie fast gesagt, aber Teddys Hand mit der Mauser zittert, und eine Schießerei an ihrem Arbeitsplatz möchte Alice Bhatti weiß Gott vermeiden.
Teddy befiehlt ihr, die Bettpfanne und den Verband wegzulegen. Sie gehorcht, denn ihr ist klar geworden, dass es Teddy ernst meint. Selbstmörderisch ernst vielleicht, aber er ist der Typ, der bei einem Selbstmord auch andere schwer verletzen könnte.
In der Orthopädie ist es für diese Tageszeit ungewöhnlich ruhig. Nummer 14, der sonst ständig irgendetwas von einer drohenden Pest durch Computerbildschirme herumschreit, verhält sich still und murmelt nur, dass sein Bein unter dem Gips juckt. Ein Stationshelfer schiebt eine mit einem Wasserbehälter beladene Schubkarre in den Gang. Als er Teddy und Alice sieht, bleibt er wie angewurzelt stehen. Verlegen, als habe er irrtümlich ein Privathaus betreten und die Besitzer in einer kompromittierenden Situation überrascht, weicht er, die Schubkarre mit sich ziehend, zurück. Alice glaubt nicht, dass er jemandem Bescheid sagt.
„Also, was wollen Sie, Mr. Butt?“ Alice bemüht sich, ihre Angst hinter der förmlichen Anrede zu verbergen. Sie hat anscheinend genau die falschen Dinge von Oberschwester Hina Alvi gelernt.
Du lebst in meinem Herzen, will Teddy sagen, durchbohrt jedoch stattdessen nur fünf Mal mit seiner Mauser die Luft. Alice hat in der Besserungsanstalt jede Menge Geschichten über verliebte Männer und Waffen gehört. In allen waren die Frauen in großer Gefahr, wenn die Männer nicht reden konnten. Sie sieht Teddy erwartungsvoll an, als habe sie verstanden, was seine Mauser gerade gesagt hat, sei davon angetan und hoffe, nun mehr zu hören.
Alles Mögliche schwirrt Teddy durch den Kopf: verworrene Verse über Alice Bhattis Lippen und ihr Haar, halb vergessene Worte über ein gemeinsames Leben, Namen für ihre künftigen Kinder, Schwüre von ewiger Liebe, die Geschichte ihrer ersten Begegnung, was sie damals getragen, was sie gesagt hat, ein fast aufrichtiges Loblied auf ihre berufliche Kompetenz, das sie gewiss zu würdigen wissen würde, ihre Schulterblätter … Schließlich wird ihm klar, dass er die Anfangszeile bereits geliefert hat, als er die Waffe zog.
Nun kann er überall ansetzen.
Alice Bhatti denkt, dass sie keine Sonntagsschichten mehr übernehmen und stattdessen lieber ihrem Vater bei seinen Holzarbeiten helfen sollte. Vorausgesetzt, es wird noch einen weiteren Sonntag für sie geben.
Sie schaut an Teddy vorbei. Oben auf der Treppe, das Gesicht der Sonne zugewandt, sitzt ein Mann. Er wirkt wie ein König aus alter Zeit, der darauf wartet, seine Untertanen
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