Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Pistole gelöst habe, als er sie in seinen rohseidenen Shalvar stecken wollte. Aber es sei nur ein Kratzer. Ein böser Kratzer, aber eben nur ein Kratzer, erzählten die Leibwächter, und mussten deshalb eine Menge alberner Fragen in Kauf nehmen. „Habt ihr ihn gesehen? Seinen Kratzer? Mit eigenen Augen? Gehört so was zu euren Aufgaben? Sich um seinen Kratzer zu kümmern?“ An diesem Punkt begannen die Leibwächter jedes Mal, unwirsch zu knurren und mit ihren Waffen zu spielen.
„Was hätten Sie denn in meiner Lage getan?“, fragt Alice Bhatti, als erkundige sie sich nach einer grundsätzlichen medizinischen Vorgehensweise. Nähen oder nur desinfizieren und verbinden?
Schwester Hina Alvi schluckt etwas Betelsaft, leckt einen Tropfen auf, der über ihre Unterlippe zu rinnen droht, und beugt sich lächelnd nach vorn. Einen Moment lang entsteht der Eindruck, sie wolle aus dem Nähkästchen plaudern, doch dann lehnt sie sich in ihren Stuhl zurück. Anscheinend hat sie sich darauf besonnen, dass sie als Oberschwester gewisse Verpflichtungen hat und der Versuchung widerstehen muss.
„Ich habe meinen Beruf im Krankenhaus an richtigen Patienten erlernt, nicht auf irgendeiner zweitklassigen Schwesternschule. Ich hätte es nie so weit kommen lassen. Du darfst niemals erlauben, dass eine Situation derart außer Kontrolle gerät. Wir sind hier nicht in einem Pashto-Film, sondern im wirklichen Leben. Und das, was du da aufgeschlitzt hast, war ein echter Schwanz.“ Schwester Hina Alvi betont das Wort „echt“, als wäre das ganze Land voller Fälschungen.
„Ja, und er hat mir seinen echten Schwanz unter meine echte Nase gehalten.“ Alice Bhatti spürt, dass Schwester Hina Alvi das genau weiß, ihr aber nicht offiziell beistehen will, um ihren Status nicht zu gefährden. Sie will vermeiden, später falsch zitiert zu werden. Schwester Hina Alvi fühlt sich ohnmächtig, will aber nicht zugeben, dass sie ohnmächtig ist. Gott weiß, wie weit die Beziehungen dieser Familie reichen. Gott weiß, wie lange Schwester Hina Alvi sie schon kennt. Vielleicht ist ihr das Gleiche auch schon mal passiert. Natürlich wird sie ihr das nicht erzählen. Sie will möglichst rasch dem Opfer die Schuld geben, bevor das Opfer jemanden beschuldigen kann. Sie will als seriöse und zuverlässige Kraft im Gedächtnis bleiben.
„Du bist nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein, der man gelegentlich etwas unter die Nase hält“, sagt Schwester Hina Alvi und hebt resigniert die Hände. „Es wäre deine Aufgabe gewesen, den Mann zu überreden, ihn wieder zurück in die Hose zu stecken und sie zu schließen. Darin besteht deine Ausbildung. Nicht darin, an jemandem herumzuschnippeln.“ Schwester Hina Alvi zerhackt mit ihrer Rechten mehrmals die Luft, wie ein wahnsinniger Fernsehgärtner.
„Und wie hätte ich das Ihrer Meinung nach anstellen sollen? Er hat mir eine Pistole an den Kopf gehalten.“ Alice Bhatti wird allmählich wütend, wenn sie an den großen Teller mit dem kleinen Sandwich, den Geruch nach grünem Tee und Tausend-Rupien-Scheinen denkt. Sie zielt mit einer imaginären Pistole auf ihre Schläfe.
„Hör schon auf mit dieser Pistolenhysterie. Jeder hält hier jedem eine Pistole an den Kopf. Wenn sich mit Waffen etwas erreichen ließe, wäre in unserem Land längst alles geregelt. Zähl einfach mal die Gewehre, die du auf deinem Heimweg siehst, und sag mir dann, ob die jemandem was gebracht haben. Apropos, wo wohnst du überhaupt?“
„In French Colony.“
„Sehr nett. Hoffentlich halten sie wenigstens ihr eigenes Viertel sauber, deine Leute, meine ich. Die übrige Stadt lassen sie jedenfalls im Unrat ersticken.“ Alice Bhatti weiß, dass viele denken, jeder in French Colony arbeite bei der Städtischen Kanal- und Straßenreinigung. Aber sie vermeidet es, sich auf Diskussionen über das Thema einzulassen. Sie führen sowieso zu nichts. „Ich kenne niemanden in Colony“, sagt sie. „Ich bin gerade erst hingezogen. Es ist so sauber dort wie überall, wo ich bisher gewohnt habe, also nicht gerade sauber.“
Schwester Hina Alvi merkt, dass sie ein Thema berührt hat, über das Alice Bhatti nicht reden will. „Hast du Familie? Geschwister?“
Alice kommt sich auf einmal vor wie bei einer Eheanbahnung. Gleich wird man sie fragen, ob sie kochen und nähen kann. Und ob sie sich vorstellen kann, in einer Großfamilie zu leben.
„Hör mir zu, was mich beunruhigt, ist, dass diese Leute sich weder telefonisch noch
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