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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohammed Hanif
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Mittelfinger und befiehlt ihr, sich daran festzuhalten.
    Sie hat schon einmal seinen Puls gefühlt. Sie hat seinen zerquetschten Daumen verbunden, der zuerst so aussah, als hätte ein Hund ihn zerkaut und ausgespuckt. Er hat versucht, ihr aus der Hand zu lesen: „Oh, der Abstand zwischen deinem Daumen und dem Zeigefinger, das ist ein Zeichen für deinen großzügigen Charakter. Ich habe noch nie eine so großzügige Hand gesehen. Und dieser Daumen – so viel Willenskraft und Führungsqualitäten … ein bisschen Sturheit ist vielleicht auch dabei. Das ist auf jeden Fall eine Gandhi-Hand: Prinzipien sind wichtiger als das Vergnügen. Jetzt zeig mir die andere.“ Doch noch nie haben die beiden sich ohne einen in schweigendem Einverständnis erfundenen Vorwand an den Händen gehalten. Alice umfasst seinen Finger, er fühlt sich an wie ein kleines Tier.
    „Du musst mit mir gehen. Ganz vorsichtig“, sagt Teddy.
    Als sie die Notaufnahme verlassen, weht Alice ein Geruch von fauligen Früchten entgegen, und aus einiger Entfernung höhnt die vertraute Stimme einer alten Frau: „Da spielt sie die Blinde, während wir Alten hier draußen sterben. Ich sterbe hier draußen. Gib mir etwas für die Nacht. Die Nächte werden länger.“
    Alice Bhatti lächelt mit geschlossenen Augen. Es ist die alte Süchtige ohne Beine, die sich auf einem Skateboard fortbewegt und immerfort damit droht, eine zerbrochene Glühbirne zu essen. „Wasch dir einmal in der Woche den Hintern“, ruft sie zurück. „Das genügt. An Läusen ist noch niemand gestorben.“
    „Bei uns leben die Ungläubigen in Saus und Braus. Dieses Land wurde für Muslime gemacht, aber wir armen Muslime kriegen hier nicht einmal Valium“, kreischt die Alte zurück.
    Alice Bhatti geht weiter. Sie geht nicht besonders vorsichtig. Sie will keine maßvolle, bescheidene Art von Überraschung. Sie will sich kopfüber in ihr Schicksal stürzen und es überraschen, ehe es sie überraschen kann.
    In diesem Krankenhaus, wo Patienten mit allen möglichen Behinderungen sich auf jede nur erdenkliche Weise fortbewegen oder fortbewegt werden – wo alte Väter ihre halbwüchsigen Söhne Huckepack und junge Mädchen ihre Mütter auf improvisierten Bahren tragen und die Polio-Truppe auf ihren Rollbrettern umhersaust –, bietet Alice, die mit geschlossenen Augen an Teddys Finger läuft, einen völlig alltäglichen Anblick.
    Teddy legt scheu und steif seine Hand an ihren Rücken und hilft ihr in eine wartende Auto-Rikscha. Alice will nicht hören, was Teddy dem Fahrer ins Ohr flüstert. Ihr Ziel soll eine Überraschung bleiben. Sie spürt, wie der Geruch nach Medikamenten, Krankheit und Hunger zurückbleibt, als die Rikscha durch den dichten Verkehr davonholpert. Sie kommt gar nicht darauf, Teddys Finger loszulassen, und drückt ihn jedes Mal, wenn die Rikscha über eine Bremsschwelle rumpelt. In jeder engen Kurve lässt sie sich gegen ihn fallen. Sie spürt, wie Teddys ganzer Körper bei jedem Abbieger erstarrt und anschließend zittert. Alice glaubt, gegen seinen festen, warmen, vibrierenden, in gestärkte Baumwolle gehüllten Körper gelehnt, bis ans Ende der Welt fahren zu können.
    Der Verkehr wird dünner und die Rikscha schneller. Die Luft ist nun feucht und salzig. Ein feiner Sprühregen trifft sie hin und wieder im Gesicht. Die Rikscha hält an. Teddy hilft ihr auszusteigen. Sie erschauert, als er ihr die Hand in den Rücken legt, um sie zu stützen.
    Sie weiß, dass sie auf einem Boot ist, einem Motorboot. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr fällt ein, wo diese Überraschung ihren Ursprung haben könnte. Sie erinnert sich vage, wie sie Teddy an einem ruhigen Nachmittag beiläufig erzählt hat, dass sie noch niemals auf dem Meer gewesen sei. „Aber da ist doch jeder schon mal gewesen. Es liegt doch vor unserer Nase“, hatte er gesagt. „Blödmann, natürlich war ich schon mal am Strand, aber ich bin noch nie Boot gefahren“, erklärte sie. „Die Wellen, die dich schaukeln. Das macht bestimmt Spaß.“
    Er hat sich etwas gemerkt, das sie nur gesagt hatte, um ein unbehagliches Schweigen zu überbrücken. Einen Moment lang ärgert sie sich. Welches Recht hat er, ihre persönlichen kleinen Launen in die Tat umzusetzen? Dann trifft eine Welle das Boot, und sie hält sich an seiner Schulter fest. Gischt spritzt ihr ins Gesicht, aber sie muss nicht fürchten, dass das Salz ihr in den Augen brennt. Das Meerwasser spült ihre Tränen fort.
    „Sollen wir heiraten?“, flüstert

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