Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Verstärkt wird das Ganze durch zwei Eisenstangen, die die Handschellen mit den Eisenringen um seine Knie verbinden. Es ist unmöglich für diese Kreatur, über längere Zeit eine menschliche Haltung einzunehmen. Im Sitzen umrahmen seine Knie die Schultern, versucht er, sich hinzulegen, drohen die Eisenstangen seine Lenden zu durchbohren. Nicht einmal zusammenrollen kann er sich, um sich auf den Wagenboden zu legen. Diese Vorkehrungen werden gewöhnlich bei Delinquenten getroffen, die die Neigung haben, aus fahrenden Gefängniswagen zu springen, oder bei solchen, deren Freunde und Komplizen Polizeifahrzeugen auflauern, mit feuernden Panzerfäusten Gerichtssäle stürmen oder Brücken sprengen, um sich ihren Mann zurückzuholen.
Teddy zieht das Tuch weg und beleuchtet das Gesicht des Gefangenen mit der Taschenlampe. Es wirkt jungenhaft und ist von Tränen und Rotz verschmiert. Ein Auge ist rot und zugeschwollen. Die Unterlippe ist eingerissen. Wahrscheinlich wurden ihm ein paar Zähne ausgeschlagen. Er winselt wie ein mit einem stumpfen Messer halb massakriertes Tier, das nun darauf wartet, dass seine Seele den Körper verlässt. Er ist in dem traurigen Zustand, in dem ein schneller Todeine annehmbare Option wäre.
Teddy beginnt, dem Jungen mit einem Zipfel seines Shawls das Gesicht abzuwischen. Das Winseln wird lauter.
„Wir nehmen das alles ab, wenn wir bei deiner Mutter sind“, sagt Teddy in beiläufigem Ton. Nicht, um ihn zu beruhigen, sondern nur, um die übliche Vorgehensweise zuerklären.
Der Fahrer hupt einen Eselskarren an, auf dessen Spinatladung der Kutscher ausgestreckt liegt und schläft. Der an morgendlichen Schnellverkehr gewöhnte Esel weicht aus. Eine flackernde Straßenlaterne beleuchtet eines der kleinen Schilder, die in der ganzen Stadt aus dem Boden geschossen sind. Es zeigt einen beschrifteten hölzernen Sarg: „Sprich deine Gebete, bevor sie für dich gesprochen werden.“
Immer wenn Teddy einen solchen Auftrag erhält, kommt er sich vor wie einer dieser alten Märchenerzähler, von denen er auf National Geographic gehört hat. Als die Menschen noch in Höhlen lebten, saßen sie ums Feuer und erzählten einander Geschichten, um wach zu bleiben, damit sie nicht von wilden Tieren gefressen wurden. Teddy findet, dass er das Gleiche auf etwas andere Weise tut: Er hält sie wach, er tröstet sie, redet ihnen gut zu, sodass sie die Nacht überstehen, macht, dass sie sich lebendig fühlen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr lebendig sind und keine Geschichten mehr hören müssen, um wach zu bleiben.
Der Junge hebt mit großer Anstrengung seinen Kopf, sieht Teddy in die Augen und fängt an zu schluchzen. „Ich weiß, ihr bringt mich weg. Ich weiß, ihr bringt mich nicht mehr zurück.“ Teddy verlässt seinen Platz, setzt sich neben den Jungen und legt den Arm um ihn. Physischen Kontakt herzustellen, ist für gewöhnlich schon die halbe Miete. Man muss ihnen die Hand halten, ihre Familie sein. Man muss ihnen eine Geschichte erzählen, vorzugsweise etwas Unerwartetes. „Ich hab ihnen doch alle Namen gesagt.“ Der Junge schluchzt nun lauter. „Alles, was ich weiß. Sie haben gesagt, wenn ich ihnen die Namen gebe, schicken sie mich ins Gefängnis. Aber ihr bringt mich nicht ins Gefängnis.“ Er fängt an zu plärren wie ein Kind, dem gerade klar geworden ist, dass sein Lieblingsspielzeug nicht mehr repariert werden kann und es kein neues bekommt.
Aber Teddy schafft es immer. Ich habe nichts getan. Sie haben mich gezwungen. Man hat mir gesagt, ich würde es für mein Land tun. Ich war zu Hause und habe geschlafen. Mein Onkel ist Anwalt. Er weiß, wie er mit ihnen umzugehen hat.
„Ich habe letzte Woche geheiratet“, erzählt er. „Heute war die erste Nacht mit meiner Frau. Und jetzt zerren sie mich um vier Uhr morgens raus nach Buffer Zone.“ Er wirft einen Blick auf den Jungen, um zu sehen, ob er Interesse an seiner Geschichte zeigt. Ob die Erwähnung von Buffer Zone etwas in ihm auslöst. „Ich weiß, wovor du Angst hast“, flüstert Teddy ihm ins Ohr. Ein richtiges, im Flüsterton vorgebrachtes Wort kann sich in dieser Branche als ebenso wirksam erweisen wie eine Zange in den Händen eines polizeilichen Ermittlers. „Wir wissen beide, dass sie diese Dinge machen. Aber warum sollten sie so weit rausfahren? Jeder offene Kanal in der Stadt würde dafür genügen. Weißt du, warum sie mich mitnehmen? Weil sie nicht wollen, dass deine Familie ihre Gesichter sieht. Ich bin nicht
Weitere Kostenlose Bücher