Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Alice wünscht sich, Dr. Pereira wäre hier, statt in der Dreieinigkeitskirche darüber zu wachen, wie das Brot gebrochen und die Blutorangenlimonade getrunken wird. Es ist niemand da, der ihr helfen kann, außer Noor, der ihren Anweisungen mit niedergeschlagenen Augen folgt und sich weigert aufzuschauen. Das Mädchen, das sich schreiend auf dem Bett herumwirft, ist ungefähr in seinem Alter und erinnert ihn an gewisse Nächte in der Besserungsanstalt. Dort hatte es eine junge Belutschin gegeben, die, sooft ihre Menstruation einsetzte, zu schreien anfing und auch nicht aufhörte, wenn man sie in eine Einzelzelle sperrte. Danach hielt Noor sich die ganze Nacht die Ohren zu und zitterte. Noor, der nicht mit der Wimper zuckt, wenn er auf dem Boden der Notaufnahme verstreute Gliedmaßen sieht; Noor, der zwölfe Stiche in drei Minuten schafft, während er dem Patienten versichert, dass die Betäubung gleich wirken wird; Noor, der sonst immun gegen alle blutigen Gräuel ist, kann den Kampf, den die Frau auf dem Bett gegen ihren eigenen Körper ausficht, nicht mitansehen. Auch wenn er Schwester Alice Bhatti die Instrumente und Desinfektionsmittel reicht, dreht er sich dazwischen immer wieder zur Wand und hält sich die Ohren zu wie ein Kind, das sich vor einer besonders gruseligen Szene in einem Horrorfilm fürchtet.
Als Schwester Hina Alvi den Kreißsaal betritt, sieht sie Noor in einer Ecke an die Wand gedrückt stehen. Sie fächelt sich mit ihrem Schal Luft zu, ihre Lippen sind rot und aufgesprungen. Ihre erste Amtshandlung besteht darin, Noor aus dem Kreißsaal zu schicken. „Irgendjemand muss dich doch auch zur Welt gebracht haben oder bist du einfach vom Himmel gefallen? Los, lauf schon, und schau nach, ob deine Mutter endlich tot ist. Wir brauchen das Bett“, sagt Hina Alvi, während sie Skalpell und Schere für einen Schnitt vorbereitet.
„Wann hast du ihre Vitalfunktionen zuletzt überprüft?“
„Vor fünfundvierzig Minuten. Sie ist ganz da, eine Rossnatur. Aber das Kind sitzt fest wie ein Backstein. Es rührt sich nicht vom Fleck.“ Alice Bhatti zeigt Schwester Hina Alvi die Krankenakte des Mädchens.
„Warum wollt ihr Mädchen die Leute immer aufschneiden? Lass sie doch ruhig schwer arbeiten. Keiner hat sie vor dem gewarnt, was passiert, wenn sie die Beine breit macht. Wann soll sie etwas lernen, wenn nicht jetzt?“ Hina Alvi bückt sich, um den Fall näher in Augenschein zu nehmen, und beginnt dann, den Bauch des Mädchens zu massieren, erst sanft, schließlich immer kräftiger, mit nach unten streichenden Bewegungen. Sie legt ihr Ohr darauf und schließt kurz die Augen. Als sie den Kopf wieder hebt, sieht Alice ihr an, was fünfunddreißig Jahre Krankenpflege Schwester Hina Alvi gelehrt haben: Das Baby ist tot.
Es verunsichert Alice Bhatti, diese Todesnachricht zu erhalten, ohne den Tod mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ein Mensch ist gestorben, ohne geboren zu werden. Alice hat das Gefühl, völlig versagt zu haben. Hat sie vierzehn Stunden geschuftet, um ein totes Baby auf die Welt zubringen? Hat dieses arme Mädchen ohne Mann oder irgendwelche sichtbaren Verwandten die kleine Seele nur genährt, damit sie zu Gott zurückkehrt, bevor es den ersten Schrei des Babys hört?
Kann Er dir etwas nehmen, bevor Er es dir gegeben hat?
Schwester Hina Alvi bittet um ein Skalpell und macht sich zwischen den Beinen des Mädchens zu schaffen. Alice Bhatti hält den Kopf der jungen Frau in ihrer Armbeuge, nimmt ihre Hand und drängt sie zu pressen. Das Mädchen presst, aber es wirkt eher, als litte sie unter schwerer Verstopfung. Nach etwa fünfzig Minuten Pressen und Nachhelfen mit dem Skalpell kommt endlich eine kleine Hand zum Vorschein. Sie ist bläulich und hängt heraus wie eine große Warze. Entnervt richtet Hina Alvi sich auf, holt tief Luft, bückt sich wieder und drückt die Hand zurück. Sie bemüht sich, den Kopf des Kindes in die richtige Position zu manövrieren, indem sie mit zwei Fingern versucht, seinen Ellbogen oder seinen Hals zu fassen zu bekommen. Sie geht mit der erfahrenen Resignation eines Menschen vor, der schon zu viele tote Säuglinge aus den Leibern ihrer Mütter gezogen hat.
Eine Stunde später fördern sie einen ovalen, schrumpeligen Kopf mit dünnen, schwarzen Haarsträhnen und einem winzigen Gesicht zutage. Die Mutter ist vor Erschöpfung ohnmächtig geworden. In Abständen durchlaufen Schauer ihren Körper, als würde das tote, noch mit ihr verbundene Kind ihr Zeichen geben,
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