Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
ihm zu folgen.
Schwester Hina Alvi dreht das Baby um und schlägt ihm auf den Po. Es hängt da wie ein gehäutetes Kätzchen. Einziger Hinweis, dass es irgendwann einmal lebendig war, sind die blutigen Flecken auf seinem kleinen Leib. Sie wickelt es in ein Tuch und legt es neben seine Mutter. „Sie wird die Frucht ihrer Liebe sehen wollen, wenn sie aufwacht. Sie ist ein armes Ding, ich weiß, aber vielleicht hat sie ihre Lektion ja gelernt“, sagt Hina Alvi.
Keine von beiden erwähnt, dass das Baby ein Junge ist, ein toter Junge, aber immerhin ein Junge.
Schwester Hina Alvi streift die Handschuhe ab und wirft sie in den Mülleimer. Alice Bhatti wischt das Blut vom Boden, sammelt meterweise Verbandszeug und Berge von Watte ein. Als sie dabei einen Blick auf Hina Alvi wirft, sieht sie, dass diese weint. Lautlos. Sie steht vor dem Waschbecken und wäscht sich die Hände, aber Alice ist sicher, dass sie weint. Es fließen keine Tränen, kein Laut kommt ausihrem Mund, aber ihr Gesicht ist verzerrt, als hätte jemand ihre Züge auf grobe Weise umgestaltet. Ihr Oberkörper bebt, und ihr stummes Schluchzen gellt durch den Kreißsaal. Hina Alvi zieht sich ihren Dupatta über den Kopf und bedeckt die Hälfte ihres Gesichts, als mache sie sich bereit, zum Gebet zu gehen. Abrupt, und ohne Alice weitere Anweisungen zu geben, verlässt sie den Raum.
Alice geht zum Waschbecken und lässt lauwarmes Wasser über ihre Hände laufen. Ihre Augen sind trocken. Ihr ist kalt.
Sie wischt sich die Hände am Saum ihres Kittels ab und tritt ans Bett der schlafenden Mutter. Ihr Blick wandert zu dem toten Kind. Ohne nachzudenken, kniet sie nieder und nimmt die Hand des Babys. Sie öffnet die bläulichen Finger und sieht, dass die Handfläche glatt und faltenlos ist. Sie umschließt die kleine Faust mit beiden Händen und beginnt zu beten. Sie betet, wie sie nie zuvor gebetet hat. Ganz gleich, ob es einen Gott gibt, der zuhört oder nicht, ganz gleich, ob Er gerade damit beschäftigt ist, einen Krieg zu verhindern, oder an der chemischen Zusammensetzung eines tödlichen, neuen Virus arbeitet. Sie beschwört ihren Herrn Yasu und wirft sich auf Ihn. Sie packt Ihn an der Kehle, bis Er keine Luft mehr bekommt, sie hängt sich an Sein Gewand, bis er keinen Schritt mehr tun kann, sie greift sich Seinen Kelch und schleudert ihn durch den Raum, sie pöbelt Ihn an, als Er vom Ölberg steigt und Seine Predigt halten will, sie reißt Seinen Jüngern die Fische aus der Hand und wirft sie zurück in den See Genezareth. Sie singt Ihm Wiegenlieder, als Seine Mutter den Stall verlässt, um Feuerholz zu sammeln, aber das hält nicht lange an. Als Er Seinen Jüngern die Füße wäscht, beschuldigt sie Ihn, ein fauler Herr zu sein, der arme, elende Mädchen tote Babys zur Welt bringen lässt. Sie fängt sogar an, Ihn auf Panjabi zu verfluchen, als Er Lazarus wieder zum Leben erwecken will. Was sie da tut, ist wahrscheinlich das Gegenteil von Beten. Im Wahn ihrer frommen Leidenschaft vergisst sie sogar, etwas von Ihm zu erflehen. Erschöpft lässt sie den Kopf auf den Bauch des Babys sinken und lauscht dem ewigen Schweigen ihres Herrn Yasu, spürt Seine eiskalte Ohnmacht. Sie vernimmt kein Rauschen von Flügeln, keinen Donner, keinen Blitz, und kein Chor ertönt aus dem Hintergrund. Sie hört nur die Tür hinter sich knarren und öffnet langsam die tränenblinden Augen. Ehe sie sich umwenden kann, erscheint eine winzige Blutblase im linken Nasenloch des Babys. Dann plötzlich zuckt sein rechter Fuß, als wolle es in seinem Todesschlaf davonlaufen.
In Panik springt Alice Bhatti auf, fährt herum und sieht Schwester Hina Alvi, bleich vor einer unbekannten Furcht, hinter sich stehen. Alice Bhattis erster Gedanke ist, dass sie etwas Ungeheuerliches getan, irgendein fundamentales Gebot des Herz Jesu gebrochen hat, etwas, das sie niemals hätte tun dürfen.
„Du musst jetzt gehen.“ Schwester Hina Alvi sieht das Baby nicht einmal an. „Draußen sind Leute, die nach dir suchen. Leute von Senior Qaz. Sie haben auch nach deinem Mann gefragt. Ich habe sie ins Büro des Rechtsmediziners geschickt, aber ich weiß, dass sie zurückkommen werden.
Beeil dich, und nimm den Hinterausgang.“
Alice Bhatti erinnert sich an die Männer in den Uniformen, die sich keiner bekannten offiziellen Stelle zuordnen ließen. Sie erinnert sich an ihre Augen, die Augen von eingesperrten Tieren, und an ihr Geplänkel über die Waschräume in Gefängnissen. Erst als sie aus der Tür
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