Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
brennt zugleich wie Feuer. Ein loser Zahn steckt in seiner philosophisch veranlagten Zunge.
Zainab bewegt sich im Schlaf. Noor schaut sich um und zählt nochmals drei Pistolen auf dem Essenswagen.
Er hat häufig daran gedacht, Zainab zu fragen, was Blinde in ihren Träumen sehen. Oder hört sie nur Stimmen? Unglaublich, dass er sie nie gefragt hat. Er nimmt sich fest vor, es morgen zu tun. Plötzlich geht ihm auf, dass Menschen, denen man eine Pistole an den Kopf hält, wahrscheinlich ständig solche Vorsätze fassen.
„Aber du weißt doch, dass ich Musalman bin, masha’ Allah“ , sagt Noor und ist von sich selbst überrascht. Er hat diesen Ausdruck noch nie benutzt. Dr. Pereira verwendet ihn oft. Zuerst tat er es, damit die älteren Patienten sich heimischer fühlten, inzwischen ist das Wort ein integraler Bestandteil seines Vorrats an guten Manieren. Das Herz Jesuleidet unter akutem Ärztemangel, wir haben keine Möglichkeitzu prüfen, ob die Medikamente, die wir verabreichen, echt odergefälscht sind, wir schaffen es nicht einmal, dafür zu sorgen, dass die Putzleute zur Arbeit erscheinen, aber masha’Allah, die Leute haben noch immer Vertrauen zu uns. Siebentausend Patienten kommen jede Woche durch dieses Tor .
Teddy ist verwirrt. Die Hand mit der Pistole erschlafft, und einige Augenblicke sieht er aus wie der alte Teddy, mit dem Noor so viele Nachmittage verbracht hat, an denen sie Bodybuilding-Tipps austauschten und diskutierten, warum die Mädchen in Filmen Bodybuilder mochten, aber im richtigen Leben nicht. Einen Moment hat Noor den Eindruck, sein durch den Stolz, ein Musalman zu sein, gestütztes Leugnen habe Teddy dazu gebracht, seinen Verdacht aufzugeben. Aber Teddy denkt nicht daran. Er hat viel Zeit in Verhörzimmern verbracht und weiß, wie leicht es ist, einen Musalman von einem Nicht-Musalman zu unterscheiden. Man muss ihm nur den Shalvar herunterziehen, den Dhoti auseinanderschlagen oder den Reißverschluss seiner Hose öffnen.
Teddy deutet mit der Pistole auf Noors Shalvar. „Zeig her. Beweise es mir.“
Noor will seinen Widerstand hinausschreien. Nein. Nein! Anscheinend ist es egal, ob man sich in einer Hölle namens Besserungsanstalt oder in einer Hölle namens Herz Jesu aufhält. Alle lieben das gleiche Spiel. In der Besserungsanstalt wurde jeder Verstoß, echt oder erfunden, jeder Fehler, mit Absicht oder versehentlich begangen, geahndet, und dazu gehörte, dass Noor seinen Shalvar herunterließ.
Noor will Teddy sagen, dass er das nicht mehr tun wird. Nicht vor seiner Mutter. Ganz gleich, ob sie es sehen kann oder nicht. Er ist siebzehn Jahre alt, und sie ist seine Mutter, und er kann sie sehen. Als er zwölf war, bestand seine Mutter noch immer darauf, ihn eigenhändig anzuziehen, weil sie auf diese Weise Noors Wachstum verfolgen konnte. Aber seit dem Tag, an dem er seine erste Erektion bekommen hatte, erlaubte er ihr das nicht mehr. Jetzt streckt sie manchmal die Hand aus, fährt mit den Fingerspitzen über den Flaum auf seinem Gesicht und seufzt.
Er sieht Zainab an, die wieder in tiefen Schlaf gefallen ist. Ihr Mund ist leicht geöffnet, und eine Fliege kreist um ihre Nase. Er würde sie gern verscheuchen.
Noor schüttelt entschieden den Kopf. Nein.
Der Schlag, der seine linke Schläfe trifft, wird mit der Seite der Pistole ausgeführt. Etwas platzt, und er spürt einen starken Druck in der Stirn, als würde ihm der Augapfel aus der Höhle springen. Während er seinen Shalvar fallen lässt, fühlt er den starken Wunsch, in einen Spiegel zu blicken. Sein rechtes Auge tränt, sein linker Augapfel hat seinen angestammten Platz verlassen. Aber Noor empfindet keinen Schmerz. Er will nur nicht, dass ein Schuss abgefeuert wird. Zainab würde nicht nur aufwachen, sondern auch furchtbar erschrecken. Von lautem Knallen bekommt sie Kopfschmerzen, die tagelang anhalten.
Noor würde seinen Augapfel gern wieder in die Höhle drücken, entscheidet sich aber dagegen, um Teddy nicht daran zu erinnern, dass seine Pistole einen Abzug hat und sicher mit ein paar Dutzend Patronen geladen ist, die nur auf die leichteste Regung seines Fingers warten.
Noor gibt sich Anweisungen: Behalte den Finger am Abzug im Auge, vergiss das ganze Zeug über den Mann mit der Pistole, den ganzen Unsinn über starke Nerven; was er vielleicht sagt und was du vielleicht antwortest, alles überflüssig. Denn ein schwaches Zucken dieses Fingers macht auch das überzeugendste Argument der Welt zunichte.
Teddy beginnt
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