Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
nun, seine Pistolen in die Tasche zupacken, wie ein Klempner, der seine Arbeit erledigt hat. „Liebst du sie?“, fragt er Noor in beiläufigem Ton.
Hätte ihm jemand diese Frage am Tag und ohne Pistole gestellt, hätte Noor sie lachend abgetan, er hätte das Wort „Kollegin“ gebraucht und von Kameradschaft und bestimmt von Teamgeist und familiärer Atmosphäre gesprochen. Immerhin ist er Dr. Pereiras Schützling. Er hat gelernt, was sich gehört, all die guten Manieren und den ultrahöflichen, sinnlosen Mist. Er hätte vielleicht sogar gesagt, sie sei wie eine große Schwester für ihn. Doch nun, wo sein Augapfel aus der Höhle hängt, seine Lippe aufgeschlagen ist und ein Zahn in seiner Zunge steckt, ist ihm klar, dass Teddy die einzige Frage gestellt hat, um die es geht. Noor weiß, dass er Alice liebt, was immer das heißt. Es wird gern gesagt, die Liebe mache einige Menschen zu Märtyrern, andere zu Dichtern und Philosophen. Natürlich macht sie manche auch zu ausgewachsenen Lügnern und Verbrechern.
„Du stellst die falsche Frage“, sagt er gelassen, wie bei der Aufnahme einer Krankengeschichte eines unbedarften Patienten, der nicht weiß, was er seinen Arzt fragen soll. „Du solltest fragen, ob sie mich liebt.“
Teddy hört ihm ruhig zu, als würde er darüber nachdenken, ob Noors Äußerung vielleicht etwas anderes bedeuten könnte.
„Und als ich sie zuletzt gesehen habe, hatte sie ein Baby bei sich. Einen kleinen Jungen. Das sollte dir viel eher zu denken geben.“
„Ein Baby?“, fragt Teddy.
„Ein ziemlich niedliches Baby. Alle sagen, es sei ein Wunder. Ihr beide solltet wirklich mehr miteinander sprechen.“
Teddy macht einen Schritt auf Zainab zu und zieht ihr das Kissen unter dem Kopf weg. Zainab setzt sich einen Moment lang auf, blickt geradeaus, dann fällt sie zurück aufs Bett und beginnt zu schnarchen. Jetzt reicht es Noor. Er will sich auf Teddy stürzen. Doch Teddy entsichert seine Pistole, wickelt das Kissen um seinen linken Unterarm und presst den Lauf hinein. Einen Moment lang schließt er die Augen und seine Gesichtsmuskeln verkrampfen sich in der Erwartung von Schmerz, wie bei einem Junkie, bevor ihm die Nadel ins Fleisch dringt. Der Schuss klingt seltsam gedämpft, und plötzlich fliegen überall im Raum kleine Federn herum. An einigen klebt Blut.
siebenundzwanzig
„Sollten wir ihm nicht einen Namen geben? Ich mag es nicht, wenn die Leute ihn ‚totes Baby‘ nennen“, sagt Alice. Sie sitzen in Hina Alvis winzigem Auto. Hina Alvi ist eine schlechte Fahrerin. Eigentlich kämpft sie eher mit dem Wagen, statt ihn zu fahren, schlägt ständig mit der Faust auf das Armaturenbrett, schaltet abrupt und droht ihm mit Strafmaßnahmen, sooft sie ihn abwürgt. Es ist seltsam, Hina Alvi außerhalb des Herz Jesu zu erleben. Sie befindet sich plötzlich in einer Welt, die sie nicht völlig kontrollieren kann, in der sie nicht erwarten kann, dass jeder ihrer Befehle sofort ausgeführt wird. Ihre Miene ist weicher, selbst ihr Haar wirkt ein bisschen schlaffer und echter. Sie fährt über das Lenkrad gebeugt und flucht jedes Mal, wenn ein Fahrzeug sie auf der falschen Seite überholt.
„Können wir ihn Little Yasu nennen, bis uns ein richtiger Name einfällt und wir den ganzen Papierkram erledigt haben?“, fragt Alice.
„Soll das ein Witz sein? Klein Jesus? Denkst du wirklich, die Welt braucht noch einen kleinen Propheten? Willst du, dass er jung und unverheiratet stirbt, missverstanden bis in alle Ewigkeit?“
„Wir hatten mal einen Nachbarn, der hieß Jesus Bhatti“, sagt Alice.
Der Wagen holpert über eine Bremsschwelle, und das Baby fängt an zu schreien.
„Siehst du, nicht mal ihm gefällt das. Ich glaube, nur ‚Little‘ würde mir gefallen.“
Alice nimmt Little von ihrem Schoß, legt seinen Kopfan ihre Schulter und drückt ihn an sich. Sein rasierter Kopf kitzelt sie am Hals. Sie fahren schweigend. Little schläft in Alice Bhattis Armen ein. Sie sieht zu Hina Alvi hinüber und überlegt, ob sie sich bei ihr dafür bedanken soll, dass sie Little und sie bei sich aufnimmt, findet dies aber verfrüht.
Schwester Hina Alvi schließt die doppelte Verriegelung an der Tür ihrer Wohnung im ersten Stock auf. Die Luft im Inneren ist abgestanden, wie lange eingesperrt. Die burgunderroten, verschlissenen Samtvorhänge sind zugezogen, und auch als Hina Alvi eine Lampe einschaltet, bleibt der Raum im Halbdunkel. Sie führt Alice Bhatti direkt in ein Schlafzimmer, als wolle sie
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