Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
nicht, dass sie die übrige Wohnung sieht. Das Zimmer ist klein, aber es gibt ein Doppelbett, auf dem Hina Alvi schon ein kleines Nest mit einer rosa Babydecke und einem Papageien-Mobile über dem Kissen vorbereitet hat.
„Im Kühlschrank ist Säuglingsmilch, Windeln sind im Schrank. Ich lege mich kurz hin. Wenn du etwas brauchst, klopfst du einfach bei mir“, sagt Hina Alvi, bevor sie das Zimmer verlässt. Alice fragt sich, ob sie ihr Angebot, sie bei sich wohnen zu lassen, schon bereut.
Als Hina Alvi die Tür hinter sich schließt, sieht Alice, dass an der Innenseite ein Bibelkreis-Kalender vom Vorjahr hängt. Wahrscheinlich möchte sie, dass ich mich wie zu Hause fühle, denkt Alice. Sie fühlt sich wie zu Hause und sinkt, die Hand auf Littles Bauch gelegt, in einen tiefen Schlaf. Als sie wieder zu sich kommt, weiß sie einen Moment lang nicht, wo sie ist. Little ist nass, Alice wechselt die Windel, wischt ihm das besabberte Gesichtchen ab, geht ins Wohnzimmer und will die Vorhänge zurückziehen.
„Ich mag es nicht, wenn die Vorhänge offen sind. Ich habe einige ziemlich neugierige Nachbarn“, wird sie von Hina Alvis Stimme überrascht.
Alice Bhatti dreht sich um. Sie braucht einen Moment, um Schwester Hina auszumachen. Erst als ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt haben, erkennt sie, dass Hina voreinem geöffneten Schrank kniet. Zuerst glaubt sie, Hina Alvi suche etwas darin, doch dann wird ihr klar, dass sie die Hände vor der Brust gefaltet hat und etwas flüstert, das ihr vage vertraut erscheint. „Geht es Ihnen gut?“, fragt Alice. Als sie keine Antwort erhält, eilt sie an Hina Alvis Seite, denn sie befürchtet, sie habe eine Muskelzerrung oder einen Schlaganfall erlitten. Hinter ihr bleibt sie abrupt stehen. In dem Schrank vor Hina Alvi befindet sich ein einfacher Altar mit einem Jesus aus Gips auf einem Blechtablett, ein paar welken Ringelblumen und einer Teekerze.
Alice Bhatti ist wie erstarrt. Sie hat das Gefühl, bei einer intimen Verrichtung zu stören, etwas zu sehen, das sie nicht sehen sollte, aber sie wagt auch nicht, sich zurückzuziehen. Denn das würde bedeuten, dass sie Hina Alvi nachspioniert hat, und sich nun, wo sie ihr Geheimnis kennt, davonschleichen will. Sie tut also das, was ihr als das einzig Logische erscheint: Sie kniet hinter ihrer Gastgeberin nieder. Kaum hat sie jedoch den Kopf gesenkt und die Hände gefaltet, hört sie Hina Alvi sagen: „Denn Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Es klingt eher nach einem Stoßseufzer als nach einem Gebet. Hina Alvi steht auf, bläst die Kerze aus und schließt den Schrank, sodass Alice Bhatti nun eine Resopaltür anbetet.
„Kein Grund zur Aufregung. Ich bin noch immer dieselbe Oberschwester, die du kennst“, sagt Hina Alvi, nimmt den Dupatta vom Kopf und setzt sich auf einen Stuhl andem kleinen, runden Esstisch.
„Wissen die im Krankenhaus davon?“ Alice ist nicht aufgeregt, nur entgeistert. Sie hegt schon immer ambivalente Gefühle gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen und konnte der Einstellung „Wir sind alle seine Schafe“ noch nie etwas abgewinnen. Eigentlich ist sie sogar ein bisschen enttäuscht. Hilft Hina Alvi ihr, weil sie sie als Schwester im Glauben sieht? Woran genau glaubt Hina Alvi überhaupt? Was ist mit dieser Frau, die herumläuft und darauf besteht, mit Miss Alvi angeredet zu werden? Ein Name, der kaum weniger muslimisch klingt als Muhammad. Und anschließend nach Hause geht und zu einem im Schrank versteckten Yasu betet?
„Was gibt es da zu wissen? Was nützt ihnen das?“ Hina Alvi spricht leise, wie zu sich selbst. „Würde das die Zustände im Krankenhaus verbessern? Würde es jemandem das Leben retten?“
„Das ist Ihre persönliche Entscheidung, und ich weiß, dass Sie nicht die Erste sind. Und wer würde es jemandem vorwerfen, wenn er seine Religion für sich behält? Ich sage nur, dass es Ihnen gut gelungen ist. Ich hätte nie gedacht …“
Hina Alvi schneidet Alice das Wort ab. „Was hättest du nie gedacht? Ist das vielleicht ein Leiden, das du als ausgebildete Krankenschwester hättest erkennen müssen?“
Alice Bhatti schweigt und wünscht sich verzweifelt, dass Little aufwacht und anfängt zu schreien, um sie aus dieser peinlichen Situation zu retten. Sie möchte verständnisvoll sein, sie ist verständnisvoll, aber sie weiß auch, dass alles, was sie jetzt sagt, nach Inquisition klingen würde.
„Ich habe mit Mr. Alvi geschlafen. Ich war mit ihm
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