Alien 4: Die Herren der Erde
zurück, »habe ich ein schlechtes
Namensgedächtnis.« Sie hatte die kühle
Überheblichkeit der jungen Menschen, die ihre Fehler erst noch
machen müssen. Sepuldeva lud sie zu einem Drink ein, und sie
standen eine Zeitlang an dem Zinktresen beieinander und unterhielten
sich. Hin und wieder warf Sepuldeva einen Blick auf den komplizierten
Chronometer über den Flaschen. Als er einmal das Embargo auf
Nowaja Semlja erwähnte, meinte die Pilotin: »Moment mal,
ich habe doch irgendwann einen Typen kennengelernt, der zu der Zeit
auch dort gewesen ist.« Aber der Bursche war bei den
föderierten Streitkräften gewesen, die schließlich
die Regierung gestürzt hatten.
Sepuldeva verließ die Bar. Seine Trunkenheit und die
Nostalgie waren zum großen Teil verflogen. Zwei
Häuserblocks weiter fand er den Haltepunkt der Einschienenbahn.
Die Lichter der Stadt versanken hinter dem Wagen, der über einen
Meeresarm hinweg auf die Lichtkuppel des Raumhafens zuglitt. Als er
in die Station ratterte, erhaschte Sepuldeva gerade noch den
Startblitz eines Navy-Frachters. Das Schiff stieg auf den Strahlen
der Schwerkraft-Projektoren in ruhiger Bahn zum Himmel hinauf.
Jede Stunde startete von hier ein Schiff.
Sepuldeva empfand keinerlei Schuldgefühl. Seiner
Vergangenheit war er schon längst entwachsen.
Wir betrachteten uns als Freie, während wir in
Wirklichkeit, ohne es zu wissen, in den Schlingen der Geschichte
festsaßen…
Dies war ein Satz aus seinem Buch. Und das waren sie wirklich
gewesen, Rayne und er, Stefan und Mia und all die anderen: Gefangene.
Rayne war es noch immer, er hatte seine Lektion noch nicht gelernt.
Ein Außenseiter – im Exil auf seiner eigenen Welt.
Sepuldeva hinterließ seinen Daumenabdruck am Tor und zeigte
dem bewaffneten Posten sein Kapitänspatent. Dann ging er unter
dem alten Steinbogen hindurch und ließ diese Welt für
immer hinter sich zurück. Sein Exil war vorüber, er war auf
dem Weg nach Hause. Er schüttelte den Staub der Erde von den
Füßen und wanderte durch den Irrgarten des Raumhafens zum
Liegeplatz seines Schiffes, bei dem sich die Mannschaft schon
eingefunden hatte und nur darauf wartete, es im Morgengrauen in den
unendlichen Raum hinauszusteuern.
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KLEIN-ILIA,
SPIDER UND BOX
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Jede Stunde starten Schiffe.
Klein-Ilia, versteckt unter der Trasse der
Monorail-Einschienenbahn am Rand des Raumhafens, sah, wie eine
violette Linie den nächtlichen Himmel zerschnitt, wie das
Schwerkraftfeld abrupt wie ein Suchscheinwerfer aufflammte, und
hörte einen Moment später das verzögerte Grollen der
Antriebe zwischen den Hitze- und Druckwellenbarrieren. Das Schiff
selbst konnte sie nicht sehen, aber seine Spur zwischen Himmel und
Erde genügte schon: Sie war ein Fanal, ein Symbol der
endgültigen Flucht vor ihrer Mutter. In den Augen des
Mädchens war jedes Raumschiff ein solches Symbol.
Die Spur erlosch. Die Schatten unter der Trasse verloren ihren
violetten Rand, und Klein-Ilia konnte wieder die Sterne sehen, die
ihr fremd waren. Die Sterne, so zahlreich wie die zukünftigen
Perspektiven, aber auch der metallische Nachgeschmack ausgestandener
Angst, der nagende Hunger und das Kratzen der schmutzigen Kleider auf
der schmutzigen Haut – all diese Dinge waren so verschieden von
den Bedingungen, unter denen sie vor ihrer Flucht gelebt hatte. Und
trotzdem willkommen – erinnerten sie sie doch an die mit
Mühen und Schmerzen gewonnene Distanz zu ihrer Mutter Ilia. Sie
hatte eine Scheckkarte mitgehen lassen, als sie von der Ranch
verschwand. Gültig gemacht mit ein paar Körperzellen, war
der Plastikstreifen 25.000 großbrasilianische Dollar wert. Aber
bis jetzt hatte Klein-Ilia die Karte noch nicht benutzt. Zum einen
war ihr Nennwert zu hoch, um sie an Automaten zu verwenden, und kein
Mensch würde ohne weiteres akzeptieren, daß ein
Mädchen, das kaum älter als zwölf Jahre aussah, so
viel Geld besaß. Sie würden die Karte überprüfen
wollen, und so konnte Ilia immer erfahren, wo ihre Tochter sich
aufhielt. Zum anderen brauchte sie einen Teil des Geldes für
ihren Flug nach Luna. Außerdem wollte Klein-Ilia nicht den Rest
für Dinge des täglichen Bedarfs ausgeben. Eine Priesterin
trank ja auch nicht ihren Morgenkaffee aus einem Kelch.
Nachdem alles wieder still geworden war, zog Klein-Ilia Box aus
ihrer Tasche im Kleid und flüsterte: »Ist der Weg
frei?«
»Das kann ich nicht feststellen«, antwortete Box knapp.
Seine Stimme tönte im Gehörgang des Mädchens wie
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