Alissa 1 - Die erste Wahrheit
auf sie war. »Bailic hat gekocht vor Zorn. Du hättest ihn sehen sollen.«
Strell erstarrte, und Alissas Lächeln schwand, denn es sah aus, als wirbelten tausend Gedanken hinter seinen Augen durcheinander. »Wir gehen«, sagte er unvermittelt, stand auf und nahm sie beim Ellbogen. »Auf der Stelle.«
Erschrocken entzog sie ihm ihren Arm. »Strell, beruhige dich. Bailic weiß nichts. Alles ist gut.«
»Nichts ist gut«, erwiderte er heftig. »Meinetwegen wärst du beinahe gestorben.«
Einen Moment lang konnte Alissa ihn nur stumm anstarren. »Aber es ist nichts passiert«, protestierte sie, als er sie am Arm packte und zur Tür zog. »Worüber regst du dich nur so auf?«
»Es hätte etwas passieren können«, sagte er mit so feuriger Miene, dass ihr angst und bange wurde. »Ich habe ihm geholfen. Ich sollte dich beschützen, und ohne meine Musik hätte er dich niemals so beeinflussen können. Es war meine Schuld.« Er zögerte und suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Ich kann dich nicht vor ihm schützen«, sagte er schließlich. »Es war dumm von mir, zu glauben, ich könnte es.«
Alissa stolperte hinter ihm drein in die große Halle, zu schockiert, um sich zu wehren. »Aber er kann das nicht noch einmal tun. Ich weiß jetzt, worauf ich achten muss. Es ist alles in Ordnung.«
Strell blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Die Halle wurde von kühlem Mondlicht erhellt. »Was wird er als Nächstes versuchen? Er hat mich davon abgehalten zu pfeifen. Was, wenn er dich am Atmen hindert?«
Alissas Mund öffnete sich, doch sie brachte kein Wort heraus. Strell nickte scharf, als sie endlich begriff. »Du musst packen«, sagte er und zog sie weiter. »Wir gehen. Jetzt.«
Ihre Füße berührten die erste Stufe, und Alissa wich angstvoll zurück. »Ich gehe nicht fort, Strell. Da draußen liegt Schnee, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
Er zögerte nur einen Augenblick. »Ja«, sagte er hastig. »Wir brechen im Morgengrauen auf.«
»Strell! Es ist Winter. Bis zur Küste sind es drei Wochen, und das bei gutem Wetter!«
»Ich lasse es lieber im Schnee darauf ankommen.« Offensichtlich frustriert blieb er stehen, und seine Wut zerschmolz zu Hilflosigkeit. »Asche, Alissa. Meinetwegen wärst du beinahe getötet worden. Ich kann dich nicht vor ihm beschützen. Siehst du das denn nicht ein?«
Alissa schluckte schwer. »Ich habe dich nie darum gebeten«, flüsterte sie.
Strell holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Wir gehen«, sagte er und wandte sich der Treppe zu.
»Ich nicht!«, rief sie und weigerte sich, einen Schritt weiterzugehen.
Strell fuhr herum, und auf seinem Gesicht lag im Mondschein ein beängstigender Schatten. Alissa sah entsetzt zu, wie er seine Flöte mit beiden Händen hob und dann hart auf sein Knie schlug. Ein scharfes Knacken war zu hören, und die Flöte seines Großvaters war entzweigebrochen. Die beiden Stücke glitten ihm aus den Fingern und klapperten die polierten Stufen hinunter. » So viel nützt uns deine Magie«, flüsterte er hitzig. » So lange wird deine Täuschung noch bestehen, und so wird Bailic mit dir verfahren, wenn er dahinterkommt. Und er wird dahinterkommen, Alissa.« Er schnappte nach Luft. »Geh und pack deine Sachen. Wir brechen morgen nach dem Frühstück auf. Er wird uns erst gegen Abend vermissen. Bis dahin sind wir schon zu weit weg, als dass er uns folgen könnte.«
»Oder wir sind bereits tot!«, schrie sie ihm nach, als er die Treppe emporstürmte. Strell nahm ihre Worte nicht zur Kenntnis, sondern stieg weiter hinauf, bis sie ihn nicht mehr hören konnte.
»Zu Asche verbrannt, Strell«, sagte Alissa leise und bückte sich nach den Bruchstücken der Flöte, die er von seinem Großvater geerbt hatte. »So viel Kummer ist es nicht wert.« Das war es nie wert gewesen, dachte sie. Nichts von alledem. Die Wölfe sollten sie holen. Sie war ja so dumm gewesen. Sie würde Strell heute Abend in Ruhe lassen – jetzt mit ihm zu sprechen wäre schlimmer, als sich mit einem Fluss unterhalten zu wollen. Und morgen würde sie ihn zur Vernunft bringen.
Irgendwie fühlte sich das polierte Holz leichter an, nun, da es zerbrochen war, und Alissa trug Strells Flöte mit hinauf, vorbei an den leeren Fluren und Kammern, vorbei an dem Spiegel auf dem Treppenabsatz und vorbei an seinem Zimmer. Sie hörte keinen Laut von ihm, als sie zu ihrer Tür schlich und sie leise hinter sich schloss.
»Wo ist Kralle?«, fragte sie sich laut, als sie sich in ihrem Zimmer
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