Alissa 1 - Die erste Wahrheit
umsah. Alissa hatte sie seit dem Mittag nicht mehr gesehen. Es war nicht Kralles Art, so lange fortzubleiben. Alissa wollte sich schon Sorgen machen, als ihr einfiel, dass der Falke stets verschwand, wenn Nutzlos auftauchte. Der alberne Vogel würde schon zurückkehren, wenn er sich wieder sicher fühlte.
Es könnte schlimmer sein, dachte Alissa niedergeschlagen. Bailic wusste noch immer nicht, wer von ihnen hier war, um nach dem Buch zu suchen, und wer zu seiner Ablenkung diente. Und das wird er auch nie erfahren, schwor sie sich und legte die Bruchstücke von Strells Flöte ehrfürchtig auf ihren Kaminsims. Strell reagierte völlig überzogen.
Sie ließ sich vor dem Kamin auf den Boden sinken und erweckte das Feuer mit Hilfe eines der Beine von Strells altem Dreibein zu neuem Leben. An der üblichen Stelle stand ein rostiges Kaminbesteck, doch sie benutzte lieber dieses unhandliche Stück Metall. Es gemahnte sie daran, immer erst genau hinzusehen, bevor sie zugriff.
»Genau wie vorhin, als ich nach Nutzlos’ Quelle greifen wollte«, murmelte sie, und bei der Erinnerung an seine scharfen Gedanken, barsch und ungeduldig, errötete sie. Sie war schlimmer als ein kleines Kind – keinerlei Selbstbeherrschung. Doch sie hatte aus dieser Begegnung viel gelernt und meinte, nun eine Idee zu haben, wie sie sich von seinem lästigen Bann befreien könnte.
Alissa legte Holz aufs Feuer, machte es sich auf dem Boden gemütlich und wickelte sich in ihre Decke. Eigentlich war ihr nicht kalt, aber sie brauchte ein wenig Trost. Die Decke war ein Talisman von zu Hause, eine wärmende Erinnerung an Sicherheit, Frieden und lange, stille Abende. Heute Abend hatte sie sich in einer Trance verloren, war gerettet, ausgescholten, bedroht und dann von Freund und Vogel im Stich gelassen worden. Sie wollte etwas im Arm halten. Die Decke würde genügen müssen. Alissa atmete durch die dicke Wolle tief ein und meinte, verbranntes Brot riechen zu können. Lächelnd legte sie noch ein langes Scheit auf und lehnte sich mit dem Rücken an ihren Sessel.
Nutzlos’ stumme Gedanken hatten ihre Vermutung bestätigt, dass ihre schimmernde Kugel nichts anderes war als reine Energie. Die Kugel sah nur leer aus, weil es dem beschränkten menschlichen Verstand so gut wie unmöglich war, etwas beinahe unendlich Großes zu begreifen. Der schimmernde Bann, in den Nutzlos ihre Kugel eingeschlossen hatte, war aus Energie geschaffen worden, also, so überlegte sie, konnte er auch verändert werden. Die Frage war nur, wie? Jedes Mal, wenn sie ihre Gedanken auch nur in die Nähe brachte, erhielt sie diese verfluchte, scharfe Warnung. Sie war schmerzhaft, aber nicht unerträglich.
Was, wenn sie eine Reaktion provozierte und die Energie, die sie normalerweise verbrennen würde, in eine Gedankenblase einschloss, sie sozusagen einfing? Ihr Blick fiel auf ihren Teil des Dreibeins, und sie beschloss, lieber erst über die möglichen Folgen nachzudenken. Erstens: Sie konnte sich verbrennen, davor hatte Nutzlos sie gewarnt. Das tat weh, aber so schlimm war es auch wieder nicht. Seit Wochen bekam sie immer wieder einen scharfen Schlag versetzt und fühlte sich kein bisschen schlechter. Zweitens: Es könnte klappen, und dann hätte sie etwas von der Energie des Bannes eingefangen. Wenn sie das oft genug machte, musste der Bann irgendwann verschwunden sein. Das wäre so, als wollte man Tropfen für Tropfen einen Eimer Wasser leeren. Es sah vielleicht nicht so aus, als mache das einen großen Unterschied, doch irgendwann war der Eimer dann leer. Drittens: Ihr wollte kein Drittens einfallen, also würde sie es versuchen. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass sie sich verbrannte.
Alissa war zufrieden mit sich, weil sie sich die Zeit genommen hatte, die Sache zu überdenken. Aufgeregt rückte sie sich auf dem warmen Steinboden zurecht. Ihre Übung in den Dornenranken und Kletten zahlte sich aus, denn sie fand ihre Quelle, ohne auch nur die Augen schließen zu müssen. Ein wenig abgelenkt durch das Feuer formte sie eine Gedankenblase, wie Nutzlos es getan hatte, als sie ihn aus ihrem Geist hatte vertreiben wollen. Langsam bewegte Alissa sie vorwärts, bis …
»Au«, zischte sie, als ein schmerzhafter Schock durch ihren Geist jagte und wieder verschwand. Sie verzog das Gesicht, holte tief Luft und schloss die Augen. So fiel es ihr leichter, sich zu konzentrieren. Diesmal machte sie die Blase dicker. Wieder schob sie die Gedankenblase auf ihre Quelle zu.
Mit
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