Alissa 1 - Die erste Wahrheit
»Alissa? Bitte, kannst du mich hören?«
Er bekam keine Antwort. Ihre Augen blieben geschlossen. Kralle hockte neben ihrem Kopf und begann, an Alissas Haar zu zupfen.
Strells Angst sammelte sich zu einem Klumpen im Bauch und drehte ihm den Magen um. Er erstarrte und blickte sich in den leeren Ecken seines Zimmers nach irgendetwas um, das vielleicht helfen könnte, doch da war nichts. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er tun sollte. Sie lag im Sterben. Er würde sie verlieren. Er würde alles verlieren, obgleich er doch erst jetzt erkannt hatte, was er da besaß!
Während er starr vor Panik war, färbte sich ihre Haut mattgrau, und ihre Atmung wurde immer flacher.
»Alissa!«, schrie Strell und rüttelte an ihrer Schulter. »Alissa, bitte«, flehte er und drückte ihre blauen Finger an seine Lippen, um sie zu wärmen. »Bitte nicht.« Es kam keine Antwort.
Außer sich vor Sorge kämpfte Strell mit sich. »Bailic«, flüsterte er. »Er kann ihr helfen. Ich gebe ihm, was immer er verlangt.« Strell stand auf und zögerte, weil er sie keinesfalls verlassen wollte. Schließlich beugte er sich zu ihr hinab und flüsterte: »Warte. Ich komme zu dir zurück.« Dann rannte er hektisch aus dem Zimmer.
»Bailic!«, schrie er auf dem Weg zum Ende des Flurs. »Wo seid Ihr? Zeigt Euch!«, brüllte er und fügte leise und gebrochen hinzu: »Ihr durchtriebener, heimtückischer Wurm von einem Mann.«
An der Treppe zögerte er, gelähmt von Unentschiedenheit. Hinauf oder hinunter? In seiner Verzweiflung konnte er sich nicht entscheiden und verzog angespannt das Gesicht.
»Kirri, kirri, kirri«, rief Kralle und flog dicht über seinen Kopf hinweg und dann die dunkle Treppe hinunter.
Strell schnappte erleichtert nach Luft, als ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Er stieg die Treppe hinab und stützte sich schwer auf das glatte Geländer. Kralle wusste sicher, wo Bailic war. Das wusste sie immer.
»Zu lange … dauert zu lange …«, stieß er gequält hervor, doch er stieg weiter hinunter, bis er von der Galerie des dritten Stocks aus die Mitte der Halle sehen konnte.
»Bailic!«, rief er. Mondhelles Schweigen schlug ihm entgegen. Er muss hier irgendwo sein, dachte Strell verzweifelt. Er konnte nicht länger warten. Er musste zurück zu ihr. Er konnte sie nicht allein lassen, allein im … im …
»Bailic!« Er blickte hoch zu seinem Zimmer, wo sie lag. Stöhnend riss er den Blick davon los und starrte hinab in die große Halle. Kralle war da und hüpfte wie von Sinnen auf der untersten Stufe herum. Wieder folgte er dem kleinen Vogel, bis hinab ins Erdgeschoss.
Strell stand mitten in der großen Halle und blickte sich verzweifelt um. Er schrie auf, als Kralle sich in die Luft schwang und eilig die Treppe wieder hinaufflog. »Bailic!« , brüllte er in tiefster Not. »Wo unter den Acht Wölfen steckt Ihr?«
– 33 –
I ch bin direkt hinter Euch – Pfeifer«, höhnte Bailic.
»Bei den Hunden«, fluchte der schlaksige junge Mann, als er zusammenzuckte und sich nach der Stimme umdrehte. »Salissa.« Er schluckte schwer. »Ich brauche Eure Hilfe.«
»Ja, das dachte ich mir bereits.« Bailic lehnte sich siegesgewiss an die Geheimtür unter der Treppe. Er verstand, warum der Pfeifer so verwirrt war. Bailic hatte den Mann schon auf halbem Wege die enge, glitschige Treppe hinauf brüllen gehört, doch er hatte warten müssen, bis Strell der Wand den Rücken zukehrte, ehe er die Tür zu dem Geheimgang hatte öffnen können.
»Ihr wisst es?« Strells Miene wurde zornig. »Ihr habt ihr das angetan!«
Bailics Augen wurden schmal. »Zieht keine voreiligen Schlüsse, die sich als tödlich erweisen könnten«, erklärte er scharf und wunderte sich darüber, dass der Mann mit Asche bedeckt war. »Ich habe nichts getan.«
Strell schien erleichtert zusammenzusinken. »Rasch. Sie ist oben.« Strell zerrte an seinem Ärmel. »Beeilt Euch. Ich –«
»Lasst – mich – los«, sagte Bailic leise und trat auf die erste Stufe. Die Unverschämtheit des Tiefländers erzürnte ihn.
Strell drehte sich auf der Treppe um. Seine Augen waren im Mondlicht weit aufgerissen, sein Gesicht plötzlich bleich, als käme er erst jetzt auf den Gedanken, dass Bailic ihm vielleicht nicht zu Hilfe eilen würde. »Ich – es tut mir leid«, sagte er. »Aber sie wacht nicht auf.« Sein Blick schoss die Treppe hinauf. »Bitte«, flüsterte er. »Ich gebe Euch, was Ihr wollt.«
Ein dünnes Lächeln breitete sich auf Bailics
Weitere Kostenlose Bücher