Alissa 1 - Die erste Wahrheit
gehört, der weinte – wie Menschen es oft tun.
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K alt. Es war so kalt, dachte Strell benebelt. Warum war ihm so kalt? Er hatte schon ewig nicht mehr gefroren. Er setzte sich auf und rieb sich vorsichtig den Hinterkopf. Seine Finger ertasteten eine kleine Beule, und er verzog das Gesicht, als sie unter der Berührung zu schmerzen begann.
»Beim Zorn des Navigators, was ist geschehen?«, flüsterte er. Im Kamin glomm nicht einmal mehr die schwächste Glut. Das einzige Licht war das des Mondes, das zum Fenster hereinschien. Er blickte sich um und stellte überrascht fest, dass er nicht nur auf dem Boden lag, sondern obendrein Hut und Mantel trug. Strell befühlte das mit Asche bedeckte Leder und versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergelangt war.
Als er taumelnd auf die Beine kam, erkannte er, warum sein Feuer erloschen war. Es war kreuz und quer über sein Zimmer verteilt. Strell rieb sich den Ruß aus dem Gesicht. Verwirrt starrte er auf die Reste verkohlten Holzes, und der bittere Gestank der Asche brachte ihn zum Husten. Der dunkle Umriss seines umgestürzten Sessels hob sich von der helleren Finsternis des Fensters ab, und er ergriff das glatt polierte Holz und stellte den Sessel wieder vor den Kamin, wo er hingehörte.
Ein eiskalter Luftzug drang durch sein Fenster herein, und er stolperte hinüber, um nach draußen zu schauen. Verschneite Wälder erstreckten sich unter ihm, eine Studie in Schwarz und Weiß. Obwohl er es besser wissen sollte, beugte er sich hinaus, um zu überprüfen, ob der Bann tatsächlich verschwunden war. Die bitterkalte Nachtluft brannte in seiner Lunge, und er blickte zu den Sternen auf. Die erstaunliche Kälte schien sie zu glitzernden Edelsteinen gehärtet zu haben. Sein Atem bildete kleine Wolken, die die eisige Strenge der Sterne milderten, und er sah zu, wie sie mit jedem seiner Atemzüge leicht verschwammen und wieder klarer wurden. Die Stille war absolut.
Nein, dachte er und runzelte die Stirn, er konnte Kralles besorgtes Zwitschern hören.
Strell drehte sich zu Alissas Fenster um. »Alissa …«, flüsterte er leise. Ein Stofffetzen flatterte am Rand ihres Fensters wie etwas Lebendiges, das schwächlich darum kämpfte, zu entkommen. Irgendetwas war mit Alissa …
»Alissa!« Er stürzte zur Tür und rutschte auf dem Feuerholz aus. Er verknackste sich den Knöchel, weil ein dünner Ast unter seinem Fuß wegrollte, und schlug krachend zu Boden. Ein einziges Ziel vor Augen, kroch er auf Händen und Füßen zur Tür, ohne den Schmerz in seinem Knöchel zur Kenntnis zu nehmen.
Sie hatte aufgeschrien. Daran erinnerte er sich. Der Laut schien noch in seinen Gedanken nachzuhalten, dieser Schrei, von dem ihm fast das Herz stehen geblieben wäre. Er benutzte seine Tür als Krücke, zog sich hoch, riss sie auf und bemerkte kaum, wie warm es auf dem Flur war. Für die drei Schritte bis zu ihrer Tür schien er ewig zu brauchen, und er platzte hinein, weil er ganz vergaß, dass sie ja eigentlich noch zerstritten waren.
»Alissa!«, schrie er, als er die Verwüstung bemerkte. Ihr Zimmer sah aus wie in Stücke gerissen. Das Feuer war an den hintersten Rand des Kamins geschoben worden und beinahe erloschen. Auch ihre Fenster hatten ihren Bann eingebüßt. Der eiskalte Wind pfiff zum einen herein und zum anderen wieder hinaus. Es war beängstigend kalt.
»Wo bist du?«, rief Strell mit dampfendem Atem, und dann entdeckte er sie auf dem Boden, wo Kralle aufgeregt keckerte. Er fiel vor Alissa auf die Knie und befreite sie sanft von der verwickelten Decke. Mit zitternden Händen drehte er sie vorsichtig zu sich herum. Ihre Haut war blass und kalt. Ihre Hände, die er mit seinen umfasste, waren blau.
Was war geschehen?, fragte er sich, und Panik raubte ihm jeden klaren Gedanken. Sein Zimmer. Dort war es wärmer. Er konnte das Feuer wieder anschüren. Vorsichtig wickelte er Alissa wieder in ihre Decke, hob sie hoch und kehrte wie ein verwundetes Tier zu seinem vertrauten Kamin zurück. Kralle folgte ihm, und er legte Alissa in seinen Sessel und beobachtete einen schrecklichen Moment lang ihre Atemzüge, um sich zu vergewissern, dass es ihr nicht schlechter ging. Dann hinkte er zurück in ihr Zimmer, um die immer noch glühenden Kohlen zu holen und ein neues Feuer zu entzünden. Verzweifelt kümmerte er sich abwechselnd um das Feuer und Alissa, bis Ersteres kräftig und hell brannte.
Halb verrückt vor Sorge kniete er neben ihr und rieb ihre Hände, um sie zu wärmen.
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