Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Aber so erzürnt, dass sie beinahe die Kontrolle verloren? Niemals.
Talo-Toecan stand stocksteif vor Bailic, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gebrüll hallte in dem gewaltigen Raum hinter ihm wider und übertönte vorübergehend das maßvolle Tropfen. »Sag es mir, du verfluchte Missgeburt von einem Leichenwurm. Was hast du ihnen angetan!«
Es erschien beinahe, als läge Talo-Toecan etwas daran, und Rakus lag selten etwas am Herzen. Städte stiegen auf und verblühten. Tyrannen schändeten und plünderten. Niemals mischten sich die Meister in die Angelegenheiten der Menschen ein, sie beobachteten nur. Die einzige Ausnahme bildeten ihre Bewahrer. Dennoch wahrten sie jegliches Wissen über sich selbst und ihre Schüler als strenges Geheimnis. Es gab zahllose Geschichten über Rakus, doch keine einzige, die sie mit irgendetwas anderem in Verbindung brachte als blutrünstigen Bestien. Nur die Bewahrer kannten die Wahrheit.
»Ich schwöre dir«, grollte Talo-Toecan, »wenn du wieder gehst, ohne mir gesagt zu haben, was du angerichtet hast, dann werde ich dir die schwarze, verkrüppelte Seele aus dem Leib schneiden und sie persönlich der Herrin des Todes überreichen! Erwarte nicht von mir, dass ich glaube, der Berg hätte von selbst gebebt. Ich habe es bis hier unten gespürt.« Talo-Toecan trat nah ans Gitter heran. »Sag es mir«, flüsterte er, »sonst mache ich dein unvermeidliches Ende noch qualvoller und schmerzhafter, als selbst du es dir in tausend Jahren ausmalen könntest, Bailic.«
»Nein, so etwas«, sagte Bailic und zupfte sorgfältig seinen Kittel zurecht. »In welchen Zustand Ihr Euch da hineingesteigert habt. Man könnte fast meinen«, erklärte er mit aufgesetztem Lächeln, »dass sie Euch etwas bedeuten.«
Der Meister stürzte lautlos vor, und aus seinen Augen funkelte glühender Hass. Der Bann stand still und fest zwischen ihnen, und da Bailic sich sicher glaubte, wich er nicht zurück, als die beiden gewaltigen Kräfte kollidierten. Dies könnte sein Ende sein, dachte er mit absurder Erregung, doch sein Vertrauen in die Macht der alten Rakus erwies sich als gerechtfertigt, und er sah mit obszönem Vergnügen zu, wie Talo-Toecan von einer unsichtbaren Kraftwelle zurückgeschleudert wurde, besiegt von einer stärkeren Macht als der seinen.
Talo-Toecans Licht erlosch, und Bailic war vorübergehend blind. Seine Finger umklammerten den Griff der Fackel, doch er zwang sich, unerschütterlich stehen zu bleiben, während seine Augen sich an die neue Dunkelheit gewöhnten. Es roch nach verbranntem Metall. Im flackernden Schein seiner Fackel beobachtete Bailic, wie Talo-Toecan sich aufrichtete, die Schultern straffte und seine lange Weste zurechtrückte.
Humpelnd tat Talo-Toecan einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen, bis er so dicht am Gitter stand, dass der Bann warnend summte. »Was …«, keuchte er heiser, »hast du ihnen angetan?«
»Ich habe nichts getan«, entgegnete Bailic. Er weigerte sich zurückzutreten, obwohl er dafür all seinen Hass und jedes Quäntchen Mut aufbringen musste. »Ich bin hier, um herauszufinden, was Ihr getan habt.«
»Du warst das nicht?«, flüsterte Talo-Toecan, und der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen huschte zur Decke.
Bailic lächelte höhnisch. »Und Ihr wart es auch nicht«, sagte er, denn nun begriff er. »Unsere neue Schülerin hat sich wohl in Schwierigkeiten gebracht, wie? Oder ist er es? Wie auch immer, ich werde oben gewiss eine interessante Situation vorfinden.« Bailic wirbelte herum.
»Bailic!«, rief Talo-Toecan, doch Bailic hörte ihn nicht mehr, in Gedanken bereits ganz damit befasst, was er wohl in den Zimmern im siebten Stock vorfinden würde.
Talo-Toecan lehnte sich erschöpft an die Felswand und sah Bailic nach, der den Tunnel entlangkroch. Nur eines konnte eine so gewaltige Menge Energie erklären, dass sie die Feste bis in ihre Grundmauern zu erschüttern vermochte. »Du hast versucht, meinen Bann zu brechen«, sagte er seufzend. »Ich habe dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören. Vielleicht ist es nun wahrhaftig zu Ende.« Beinahe traten Tränen in die uralten Augen.
Umgeben von einem grauen Wirbel schimmerte die kleine Gestalt eines müden Mannes auf und wuchs, bis die elegante Masse eines Rakus sie ersetzte. Der Boden war hart und kalt, und in der Gestalt, in der er geboren worden war, spürte er das nicht so sehr. Außerdem, dachte er, war die Tragödie so leichter zu ertragen. Man hatte noch nie von einem Raku
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