Alissa 1 - Die erste Wahrheit
weit zurück, dass er beinahe im Tunnel stand. Dabei ließ er keinen Moment lang die Bestie aus den Augen, die sich nicht rührte; nur die stumpfe Schwanzspitze bewegte sich langsam hin und her.
»Es freut mich, Euch zu sehen«, sagte Bailic leise, »alter Lehrmeister. Ich dachte, Ihr hättet vielleicht beschlossen, mich zu verlassen.«
Der gewaltige Umriss schimmerte, schrumpfte und wurde zu einer kleineren Gestalt, die Bailic ebenfalls als Talo-Toecan kannte. Augen, die Beute aus großer Höhe aufspüren konnten, und Krallen, die dazu geschaffen waren, Fleisch zu zerreißen, verwandelten sich in solche, die Worte lesen und Seiten umblättern konnten. »Du lebst noch, Bailic?«, ertönte Talo-Toecans tiefe Stimme. »Dann bin ich noch hier.«
Bailic richtete sich in gespielter Tapferkeit auf. »So ist es.« Da Talo-Toecan nun in seiner menschlichen Gestalt vor ihm stand, wurde er mutiger und trat näher heran. »Ich wollte nur nachsehen, was Ihr hier anstellt«, erklärte er und hob seine Fackel, um nachzusehen, ob der Energiestoß, den er gespürt hatte, sich irgendwo sichtbar manifestiert hatte.
»Du gestattest«, murmelte Talo-Toecan, und gleißendes Licht flammte auf.
»Bei den Wölfen!«, fluchte Bailic, warf sich zu Boden und rollte sich weg, wobei seine Hand eisern die Fackel festhielt. Er lag flach auf dem Steinboden, die Augen zusammengekniffen, als Talo-Toecans Hohngelächter den engen Vorraum erfüllte. Zu spät erkannte Bailic, was geschehen war. Kochend vor Zorn stand er auf und klopfte sich unbeholfen den eingebildeten Schmutz von seinen Gewändern, um den Raku dann böse anzustarren. Er wusste, dass er diesseits des Gitters vor Talo-Toecans Zaubern sicher war, doch in Gegenwart des verschlagenen Gelehrten fiel es ihm schwer, solche instinktiven Reaktionen zu kontrollieren.
Aus Gründen, die nur er selbst kannte, hatte Talo-Toecan unter dem tonnenschweren Berg ein Licht erschaffen, das heller als die Sonne strahlte. Der schlaue Raku hatte das noch nie zuvor getan. Er musste einen Grund dafür haben, vermutete Bailic voller Abscheu, abgesehen davon, dass er gern zusah, wie sein Wärter floh wie ein Hund vor einem Fußtritt. Doch zumindest konnte er jetzt besser sehen.
Bailic beugte sich dicht ans Gitter und errötete, als Talo-Toecans hochgezogene Augenbrauen seine gestohlene Meister-Weste zu verspotten schienen. Die Bestie hatte sich in den sechzehn Jahren nicht verändert, dachte Bailic erstaunt.
Talo-Toecan trug die traditionelle bodenlange, ärmellose Weste eines Meisters der Feste. Der goldfarbene Stoff fiel elegant bis zum Boden, an der Taille mit einer elfenbeinfarbenen Schärpe eng gegürtet, deren Enden ebenfalls den Boden streiften. Sie bildete einen sanften Kontrast zu seinem gelben Kittel mit den weiten Ärmeln. Erschrocken bemerkte Bailic, dass die Gewänder des Meisters den genauen Gegensatz zu seinen bildeten – alle Farben waren umgekehrt.
Trotz der langen Gefangenschaft war Talo-Toecans Teint so dunkel wie eh und je. Offensichtlich verbrachte er viel Zeit am anderen Gitter, das auf den offenen Himmel und die Sonne im Westen hinausblickte, und starrte in die Freiheit, die er nicht erreichen konnte. Seine Gestalt vermittelte den Eindruck zeitloser Reife, wie er da so aufrecht und ungebeugt vor ihm stand und ihn anfunkelte. Talo-Toecans Gesicht mit den geraden, scharfen Zügen wies nur wenige Falten auf, doch sein kurz geschorenes Haar war schneeweiß. Seine Hände waren in den weiten Ärmeln verborgen, aber Bailic wusste, dass Talo-Toecans Finger unnatürlich lang und dünn waren. Das war ein Charakteristikum aller Meister gewesen, ebenso wie ihre bernsteinfarbenen Augen. Anscheinend konnte die Verwandlung in eine menschliche Gestalt nicht all ihre Raku-Merkmale verbergen. Einen schweigenden Moment lang maßen sie einander. Nirgends war ein Anzeichen der Erschütterung durch die gewaltige Freisetzung von Energie zu entdecken, die Bailic gespürt hatte.
»Was«, fragte Bailic, »habt Ihr getan?«
»Ich!«, schrie Talo-Toecan, und mit diesem einen Wort war seine kühle Fassung dahin. » Ich? Du wagst es, hier herunterzukommen und mich mit deinen Lügen zu verhöhnen? Was hast du getan?«
Mit aufgerissenen Augen wich Bailic unwillkürlich einen Schritt zurück. Noch nie hatte er oder sonst irgendjemand erlebt, wie ein Meister der Feste die Beherrschung verlor – und später davon berichten können. Sie hatten ihre Gefühle stets vollkommen im Griff. Zornig? Ja. Verärgert? Oft.
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