Alissa 1 - Die erste Wahrheit
zu hören.
»Strell …«, murmelte Alissa.
»Alissa!« Strell wandte sich um und sprang auf.
Bailics Kopf prallte mit einem dumpfen Knall auf den Fußboden. Seine Augen wurden schmal, und er kämpfte gegen den Drang an, den Mann auf der Stelle zu versengen. Er betastete sein Gesicht und spürte einen kleinen Kratzer. Der Vogel hatte ihn also doch erwischt. Mit so viel Anmut, wie er aufbringen konnte, erhob Bailic sich vom Fußboden und klopfte sich den Schmutz von den Gewändern. Er hatte das Gefühl, dass er das in letzter Zeit ziemlich oft getan hatte. Er hatte es allmählich satt.
Strell kniete neben der jungen Frau, strich ihr über die Stirn und flüsterte ihr Ermunterungen zu. Ihre Augen waren geschlossen, und Bailics Handabdruck zeichnete sich tiefrot auf ihrer Wange ab. Sogar der Vogel zeigte sich besorgt um sie, flötete sanft und hüpfte aufgeregt dicht an ihrem Ohr herum.
»Widerlich«, stieß Bailic knurrend hervor. Der Pfeifer war ein Narr: seine Chance auf unermessliche Macht gegen die – mögliche – Zuneigung eines gewöhnlichen Mädchens einzutauschen. Es war unsäglich. Mitgefühl machte schwach und verletzlich. Es lag keinerlei Kraft darin. Das war ein Irrtum, der ihm nie wieder unterlaufen würde. Einmal, vor langer Zeit, hatte ihm gereicht.
Bailic warf einen Blick zurück, bevor er über die Schwelle trat. Den beiden war es vollkommen gleichgültig, ob er ging oder blieb. »Narr«, sagte er barsch und stapfte den Flur entlang. Niemand bemerkte seinen Abgang.
Irgendwie schmeckte dieser Sieg nicht so süß, wie er es sich vorgestellt hatte.
– 34 –
I n Sicherheit, dachte sie, doch sie konnte sich nicht erinnern, vor was.
»Du bleibst doch?« , regte sich eine schwache Erinnerung. Dieser Ruf war so alt, dass er aus der Zeit vor ihrer Geburt zu stammen schien. Er war fast zwanzig Jahre lang ungehört verklungen, übertönt von warmem Frühstück, aufgeschrammten Knien und Lachen. Doch nun, ganz allein in ihren Gedanken, konnte sie ihn hören. »Erinnerst du dich an mich?« , flüsterte die Stimme verführerisch. »Bleib.«
»Aber was wird dann aus Strell?« , dachte sie verwirrt.
»Er harrt deiner Gesellschaft nicht länger« ,flüsterte die Stimme in ihr. »Das weißt du.«
»Kralle wird sich grämen, wenn ich nicht zurückkehre.« Sie konnte nicht hierbleiben, auch wenn es wunderbar warm war.
»Strell wird für sie sorgen« , erwiderte das Flüstern. »Bleibst du bei mir?«
»Aber meine Mutter« , sagte Alissa und spürte, wie ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet. »Sie ist ganz allein und wartet auf mich.«
»Du brauchst dir nichts vorzumachen« , sagte die Stimme tröstlich. »Sie erwartet nicht, dass du zurückkehrst.«
»Papa« , flehte Alissa, die fühlte, wie ihr Wille, der Stimme zu widerstehen, allmählich erlahmte. »Er hat sein Leben für mich hingegeben.«
»Er ist vor dir zu mir zurückgekehrt« ,erklärte die Stimme. »Bleib bei mir.«
»Dann bekommt Bailic mein Buch« , flüsterte sie, doch ihre Kraft war verschwunden.
»Spielt das eine Rolle?« , fragte die dunkle Stimme sanft, und Alissa musste ihr zustimmen. Die Stimme überließ sie wieder ihrer nebligen, grauen Welt. Alissa kuschelte sich in die angenehme Wärme, dämmerte friedlich vor sich hin und wartete darauf, dass der Nebel sie in einen unwiderruflichen Schlummer lullte.
»Warte. Ich komme zu dir zurück«, flüsterte eine neue Stimme zärtlich und schreckte sie in ihrem Nebel auf.
Strell?, dachte sie verblüfft. Er war so wütend auf sie. Er wollte ihr nicht zuhören, nicht mit ihr sprechen. Oder doch?
Dann durchfuhr sie ein scharfer Schmerz. Das klebrige Grau, das sie umfangen hatte, ließ widerstrebend ab und löste sich auf, und nur die Erinnerung an seine gefährliche Behaglichkeit blieb zurück, an geflüsterte Lügen über Frieden und Stille. Erst jetzt, als sich der Griff lockerte, bemerkte Alissa ihn. Das war die Herrin des Todes, hier in ihren Gedanken. Die finstere Jungfrau nahm die letzten Falten ihrer Decke wieder an sich, und Alissa spürte, wie sie sich niederließ, um geduldig zu warten. Der Tod hatte in Alissas Gedanken ein behagliches Plätzchen gefunden und war bereit, sich noch ein Weilchen zurückzuhalten. Doch Alissa wusste, dass sie gezeichnet war. Der Tod konnte sie sich nach Belieben holen. Wie eine ahnungslose Närrin hatte Alissa sich in den dargebotenen Schutz geflüchtet. Doch ihr Frieden war der Frieden des Todes, ihre Zuflucht die der ewigen Isolation.
Weitere Kostenlose Bücher