Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Sachen haben. Ich habe den Tiegel nur mit auf den Tisch gelegt, damit mein Angebot größer erscheint, und als ich es dir dann gesagt habe, bist du tatsächlich wütend geworden. Ich wusste nicht, dass der Tiegel dir so viel bedeutet hat, bis du meinen Sessel aus deinem Zimmer geworfen hast. Es tut mir aufrichtig leid. Wenn ich gewusst hätte, dass dir die Salbe so wichtig ist, hätte ich dich vorher gefragt.« Er zögerte. »Oder es dir früher gebeichtet.«
Alissa war so erstaunt über diesen Wortschwall, dass sie schon den Mund öffnete, um sich ihrerseits zu entschuldigen, als ihr bewusst wurde, was er alles gesagt hatte. Verwirrt schloss sie den Mund wieder. »Ich habe deinen Sessel nicht umgeräumt«, sagte sie langsam.
»Wie bitte?«
Alissa schüttelte den Kopf. »Ich habe deinen Sessel nicht angerührt. Ich dachte, du hättest ihn umgestellt. Ich dachte, du seist so wütend auf mich, weil ich mich wegen der Salbe aufgeregt habe, dass du nicht mehr mit mir sprechen wolltest.«
Sie sahen einander verständnislos an. Gleichzeitig begriffen sie.
»Bailic«, spie Strell mit schmalen Augen aus.
Alissa ließ sich seufzend in ihre Kissen sinken. »Allerdings, Bailic«, wiederholte sie. Welch eine gemeine, kranke List, dachte sie düster. Er hatte vermutlich gehofft, dass er ihren Streit damit verschlimmern könnte und dass einer von ihnen ihm das Buch schließlich aus Rache geben würde. Dennoch konnte sie Bailic nicht allein die Schuld daran geben. Sie hätte Strell auf den Sessel ansprechen sollen. Oder wegen ihrer Salbe nicht so in Wut geraten sollen. Ihr Stolz und ihr Jähzorn waren ihr in die Quere gekommen.
Stumm kreuzte Alissa die Finger und schwor sich, dass ihr Temperament sie nie mehr daran hindern würde, einen Streit versöhnlich zu beenden. Dann spreizte sie die Finger wieder und versprach sich, nie wieder zuzulassen, dass ihr Stolz sie so beherrschte. Er hatte sie beinahe um eine Freundschaft gebracht. Alissa holte tief Luft und begegnete Strells Blick. »Es tut mir leid, dass ich gestern so einen Aufstand gemacht habe«, sagte sie verlegen. »Es war ein guter Handel. Ich danke dir.«
Ein Lächeln breitete sich langsam auf Strells Gesicht aus. »Ja, das war er. Gern geschehen.«
Alissa beschäftigte sich mit Kralle. Der alberne Vögel hatte endlich aufgehört, sie zu umsorgen, und Alissa setzte ihn wieder auf die Armlehne. Diesmal blieb der Vogel sitzen. »Du ahnst ja nicht, wie leid mir das alles tut«, sagte Alissa.
»Mir auch«, erwiderte Strell. »Nicht zu glauben, dass Bailic das getan hat.«
»Niemals wieder?«, wisperte Alissa.
»Niemals wieder«, erklärte Strell bestimmt. Er streckte den kleinen Finger aus, und mit einem freudigen Grinsen hakte Alissa ihren kleinen Finger darum in der uralten Tradition von Kindern, die ein Versprechen bekräftigten. Offenbar hatte diese kindliche Sitte die Grenze vom Hochland ins Tiefland vorurteilslos überquert. Die Jugend war oft weiser als das Alter, wenn es um Fragen des gesunden Menschenverstands ging …
»Wie er uns zum Narren gehalten hat«, sagte Strell verlegen und ließ die Hand sinken. »Dafür sollte ich ihn verprügeln.«
Alissa schnaubte verständnisvoll. »Ja, vielleicht.« Dann verzog sie das Gesicht, als sie den Riss in der Wand betrachtete. »Aber dann müsste ich mein Buch allein suchen, denn du wärst nichts mehr als eine nette Erinnerung. Vergiss es.« Sie richtete den Blick wieder auf ihn. »Es ist nicht wichtig.«
Sie schaute gerade noch rechtzeitig zu ihm hin, um den gleichen nervösen Ausdruck wie zuvor über sein Gesicht huschen zu sehen. Er widmete sich seinem Knöchel und wich ihrem Blick sorgsam aus. Sie musterte ihn argwöhnisch. »Was ist los, Strell?«
»Nichts«, brummte er.
Dieses Brummen kannte sie nur zu gut. Er verschwieg ihr etwas. Kralle sträubte warnend ihr Gefieder, als zweifle auch sie an der Aufrichtigkeit seiner Worte. Alissa blickte von ihrem Vogel zu Strell. »Heraus damit, Strell«, versuchte sie es. »Sag es mir.«
Er blickte mit allzu unschuldiger Miene zu ihr auf. »Du bist müde. Das kann … noch warten. Ich will erst wissen, ob es geklappt hat.«
»Ob was geklappt hat?«, fragte Alissa verwirrt und versuchte dahinterzukommen, was unter den Acht Wölfen er meinen könnte. Offensichtlich versuchte er, das Thema zu wechseln, doch ihre Neugier siegte – wie immer.
»Nutzlos’ Bann zu entfernen.« Er grinste.
Ihr Herz pochte laut, und sie strich sich nervös eine Strähne hinter das Ohr.
Weitere Kostenlose Bücher