Alissa 1 - Die erste Wahrheit
»Ich glaube nicht«, sagte sie vorsichtig. Es kam ihr unwahrscheinlich vor. Sie erinnerte sich an entsetzliche Schmerzen. Auf Strells ermunterndes Nicken hin fuhr Alissa sich mit der Zunge über die Lippen und richtete ihre Aufmerksamkeit darauf, ihre Quelle zu visualisieren.
Zu ihrer großen Freude trieb die strahlende Kugel allein und unversperrt in ihr Blickfeld. »Sie ist frei!«, sagte sie glücklich und spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Strell, ich habe es irgendwie geschafft.« Ihre Quelle schimmerte sanft vor ihrem inneren Auge, befreit von Nutzlos’ Bann. Sie glänzte blau-golden und weich in der Dunkelheit ihrer Gedanken. Sie gehörte ihr, und sie konnte damit tun, was ihr gefiel. Sie hatte es geschafft. Aber irgendetwas stimmte nicht.
Das heisere Summen, das sie schon den ganzen Abend lang plagte, wurde schlimmer, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit dorthin, wo sich ihr prächtiges Muster ausbreitete. Die schwach schimmernden schwarzen und dunkelvioletten Pfade waren weg. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, und ihr Magen verknotete sich. »Strell?«, rief sie und hörte ihre Stimme vor Angst zittern, als sie das Nichts betrachtete, das einmal ihre Pfade gewesen war. »Sie sind weg! Meine Pfade sind weg!«
Alissa starrte auf die innerliche Verwüstung und konnte den entsetzten Blick nicht von der verkohlten, zerstörten Landschaft vor ihrem inneren Auge losreißen. Wo sich einst zarte, schwarzblaue Schleifen und Wirbel erstreckt hatten, lagen jetzt nur noch entstellte Kanäle, verstopft mit verbrannter Schlacke. Sie hatte sie zuvor für unbelebt gehalten, wenn gerade nichts von der Energie aus ihrer Quelle hindurchgeflossen war. Doch dieses verkohlte Trümmerfeld voller Asche war wahrhaftig tot. Es war vorbei. Das war ihr Ende. Nun hatte sie keinen Grund mehr, nach dem Buch zu suchen, dachte sie, innerlich leer. Sie würde es nicht benutzen können.
Verzweiflung senkte sich schwer auf sie herab und erdrückte sie. Strell rief nach ihr, doch sie war hilflos, konnte nicht einmal den Blick davon losreißen. »Weg«, murmelte sie und schrie dann: »Autsch!«, als etwas sie ins Ohr zwickte. Es war Kralle, ihrer kleinen Vogelseele sei Dank.
»Nicht schon wieder, Alissa«, erklang Strells Stimme, ganz nah und sehr besorgt. »Das ertrage ich nicht, nicht zweimal an einem einzigen Abend.«
Der Schmerz in ihrem Ohr riss Alissa aus ihrer inneren Vision, und die verstümmelten Überreste ihrer Pfade verblassten zu einer bloßen Erinnerung. Doch der Schaden blieb. Er würde vermutlich für immer bleiben, doch nun, da sie ihn nicht mehr ansehen musste, war der Schock leichter zu ertragen. »Sie sind weg«, wiederholte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es ist nichts mehr da!« Dann gab es nur noch Strell, der neben ihr kniete und sie im Arm hielt, während sie schluchzend versuchte, ihm zu beschreiben, was sie gesehen hatte. Er lauschte stumm und hielt sie fest an sich gedrückt, damit sie sich nicht völlig verlor.
»Ich bin schuld«, weinte sie an seiner Schulter und ließ sich von dem ehrlichen Geruch nach Sand und Wind trösten, den er sogar unter der stinkenden Asche hervor verströmte. »Warum«, schluchzte sie, »habe ich nicht einfach die Finger davon gelassen, wie man mir befohlen hatte?« Alissa blickte auf und war überrascht, das schmerzliche Mitgefühl in Strells Augen zu sehen. »Was soll ich jetzt tun?«, flüsterte sie hohl. »Ich bin nichts. Ich habe alles verloren.«
»Zunächst einmal«, erklärte er bestimmt, »wirst du Tee trinken.«
Alissa blickte mit feuchten Augen verständnislos zu ihm auf.
»Dann«, fuhr er fort, »wirst du etwas essen, und danach wirst du schlafen, denn es ist schon fast Morgen.«
Er behielt nur teilweise recht. Sie schlief ein, bevor sie den ersten wärmenden Becher ausgetrunken hatte.
– 35 –
S trell seufzte und zog sacht den Becher aus Alissas schlaffen Fingern. »Ich hätte Matalina heiraten sollen«, scherzte er, und Kralle, die schützend über ihrer Herrin hockte, sträubte das Gefieder, als gebe sie ihm recht. Es schien ihm kaum möglich, dass nur Stunden vergangen waren, seit er allein das Abendessen in der leeren Küche zubereitet hatte. Er hatte geglaubt, er hätte sie endgültig verloren, als sie ihn so deutlich gemieden hatte. Als sie doch in den Speisesaal kam und eigens ihren neuen Rock angezogen hatte, für Bailic, wie er glaubte.
Um endlich das Schweigen zu brechen, wollte er ihr Lieblingslied
Weitere Kostenlose Bücher