Alissa 1 - Die erste Wahrheit
auf der Flöte seines Großvaters für sie spielen. Doch damit machte er alles nur um ein Vielfaches schlimmer, indem er Bailic half, sie in diesen leicht beeinflussbaren Zustand zu versetzen. Das hatte Strell nicht gewollt. Er hielt sich für zu klug, um auf solche Tricks hereinzufallen, doch er ließ sich von Bailic ebenso leicht beeinflussen wie Alissa. Wenn Nutzlos nicht gewesen wäre, wären sie jetzt vermutlich beide tot.
Strell spürte, wie seine Abneigung gegen den geheimnisvollen Nutzlos sich ein Stück in Richtung Dankbarkeit verschob. Er musste einen Weg durch diese verschlossene Tür finden. Es war offenkundig, dass Nutzlos und Bailic einander verabscheuten, und das gab Strell neue Hoffnung. Er durfte Nutzlos’ Behauptung, er könne nicht befreit werden, einfach nicht glauben. Sobald er Nutzlos gefunden hatte, konnte der sich um Bailic kümmern. Strell würde Alissa nicht einmal von seiner schrecklichen Abmachung mit dem blassen Mann erzählen müssen.
Strell warf Kralle einen schuldbewussten Blick zu und lehnte sich dichter ans Feuer. Er war froh, dass der Vogel nicht sprechen konnte. Es würde der Zeitpunkt kommen, da er Alissa erzählen konnte, dass er Bailic ihr Buch versprochen hatte, aber nicht heute Nacht. Nicht, nachdem sie sich beinahe selbst getötet hätte. Nicht, nachdem sie hatte sehen müssen, dass ihre Zukunft als Bewahrerin zu Asche verbrannt war. Strell lächelte. Nicht, nachdem ihm klar geworden war, dass er sie möglicherweise liebte.
Er schüttelte langsam und resigniert den Kopf und wandte sich seinem schmerzenden Knöchel zu. Die Bänder seiner Stiefel waren straff über der Schwellung gespannt. Ein sachtes Zupfen an den Knoten ließ ihn beinahe an die Decke fahren, als der Schmerz von quälend zu beinahe unerträglich aufflammte. Es drehte ihm den Magen um, als er die Bänder zerschnitt, um den Stiefel auszuziehen. Ein Stöhnen, halb schmerzerfüllt, halb erleichtert, entrang sich ihm. »Bei den Wölfen«, keuchte er und blickte hinab auf den angeschwollenen, violett verfärbten Klumpen, der einmal sein Knöchel gewesen war. Es war wohl jede Sehne darin in Fetzen gerissen. Ein sauberer Bruch wäre besser gewesen als das hier. Der Knöchel würde nie ganz verheilen. Strell warf angewidert den Stiefel von sich.
Sie würden trotzdem gehen, dachte er stirnrunzelnd. Sobald sein Knöchel sein Gewicht tragen konnte. Vielleicht kannte Alissa ein Volksheilmittel aus dem Hochland. Ihr Knöchel war damals binnen eines Tages verheilt. Er würde sie bitten, sich seine Verletzung einmal anzusehen. Nun, da sie gewiss dazu bereit sein würde, dachte er und freute sich so über diesen Gedanken, dass er hätte platzen mögen.
Vorsichtig rutschte er zu ihr hin, um in ihr ruhiges Gesicht zu blicken. Ihre Haut war noch immer jämmerlich blass, aber nicht mehr gefährlich bleich. Ihre Augen waren geschlossen, doch er konnte sie sich leicht ins Gedächtnis rufen. Dieses tiefe Grau war unvergesslich. Wie, fragte er sich, hatte er diese Augen je merkwürdig finden können? Sie passten vollkommen zu ihr.
»Ich frage mich, welcher Familie ihre Mutter wohl entstammt«, flüsterte er und wusste sehr wohl, dass er nie die Verwegenheit aufbringen würde, sie danach zu fragen. Alissa schien in so vielen Dingen geschickt zu sein, sie hielt nicht an einer Fähigkeit oder Arbeit fest, wie es im Tiefland üblich und auch notwendig war, um den Frieden zu bewahren. Sie war sehr geschickt darin, Kleider zu nähen, doch das galt für etwa jeden Zweiten im Tiefland. Dinge aus Stein zu meißeln war eine recht einmalige Begabung, doch er hatte noch nie von einer Familie mit verbrieftem Namen gehört, die sich auf dieses Handwerk spezialisiert hatte. Remas Abstammung musste ganz gewöhnlich sein. Alissa hatte einmal erwähnt, ihre Mutter stamme aus der tiefsten Ebene. Die Einzigen, die dort überleben konnten, waren Diebe und Mörder. Strell wusste, dass seine Mutter eine solche Verbindung nicht gestattet hätte, selbst wenn Alissa aus dem Tiefland stammen würde, und er schob den Gedanken voller Schuld und Trauer von sich.
Eine verirrte Strähne ruhte auf Alissas Wange, und er strich sie ihr vorsichtig hinters Ohr. Ihr Haar war so anders als jegliches Frauenhaar, das er zuvor länger betrachtet hatte. Beinahe wie gesponnenes Gold. »Das ist es!«, flüsterte er plötzlich. »Das werde ich für sie machen.« Die Sonnenwende rückte näher, und es war Tradition, sich gegenseitig etwas zu schenken. Er hatte in den
Weitere Kostenlose Bücher