Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Bewahrer.«
Strell, der gerade nach der Teekanne griff, erstarrte mitten in der Bewegung. Langsam setzte er sich wieder hin. »Ich glaube, du hast recht.« Anscheinend tief in Gedanken versunken, trommelte er mit den Fingern auf die Bank. Plötzlich schnippte er und richtete sich auf. »Ich wette, er hat die Schrift auf der Karte deines Vaters gesehen. Bailic hat mich gefragt, was einer dieser Begriffe bedeutet. Deshalb glaubt er, ich könnte diese seltsamen Kringel lesen.«
Alissa lächelte über seine offenkundige Freude, das Rätsel gelöst zu haben. »Welcher Begriff war es denn?«, fragte sie.
Er grinste. »Gefährliche Schlucht.«
Alissa biss sich plötzlich besorgt auf die Lippen. »Das könnte Ärger geben, Strell.«
Er lehnte sich zuversichtlich auf der Bank zurück, schwenkte den Tee in seinem Becher herum und lächelte zufrieden. »Hm? Warum das?«
»Überleg doch mal«, sagte sie. »Was, wenn er von dir verlangt, etwas anderes zu lesen? Etwas, das nicht auf der Karte steht?«
Strell trank eifrig, als wolle er unbedingt den Boden des Bechers begutachten, und gab ein Brummen von sich. »Daran hatte ich nicht gedacht.« Er warf ihr einen kläglichen Blick zu. »Du wirst es mir wohl beibringen müssen?«
»Das muss ich wohl«, sagte sie wenig begeistert, aber froh, dass der Vorschlag von ihm gekommen war und nicht von ihr selbst. »Das wird nicht einfach sein.«
»Ach, Sand und Wind«, schnaubte er. »Wie schlimm kann es schon sein? Ich kann ja schon lesen, nur nicht dieses Gekrakel. Du hast es gelernt. Also kann ich es auch lernen.« Er trank den letzten Schluck Tee aus seinem Becher, schmatzte und warf einen Zweig ins Feuer.
»Ja, aber ich habe damit angefangen, als ich vier Jahre alt war.« Genervt von seiner Überheblichkeit, griff Alissa an ihm vorbei und warf ebenfalls einen Zweig ins Feuer.
»Trotzdem«, sagte er, legte einen dritten obendrauf und grinste unablässig.
»Also schön«, forderte sie ihn heraus. »Wie schreibt man ›gute Angelstelle‹?«
Immer noch lächelnd, strich er den zusammengepressten Schnee glatt. Er nahm einen Zweig, kratzte das richtige Zeichen in den Schnee und blickte Beifall heischend zu ihr auf.
»Sehr gut«, räumte sie widerstrebend ein, »aber das stand auf der Karte. Also, das hier« – rasch kratzte sie dasselbe Zeichen – »bedeutet gute Angelstelle, wie du eben richtig geschrieben hast. Das« – sie veränderte ihr Zeichen drastisch – »bedeutet bei Nacht angeln, und das hier« – sie zeichnete ein völlig anderes Symbol – »heißt, dass jeder, der hier beim Fischen ertappt wird, am eigenen Netz aufgehängt und den Krähen überlassen wird.«
»Das heißt es nicht!«, rief er aus.
»Äh, nein«, gab sie zu. »Es bedeutet gute Nacht.«
»Aber es sieht überhaupt nicht aus wie gute Angelstelle oder bei Nacht angeln«, beklagte er sich und starrte auf die drei Zeichen.
»Ja, ich weiß.« Stumm wartete Alissa ab, während ihm das ganze Ausmaß seines gewagten Vorschlags bewusst wurde. Man musste jedes Wort einzeln auswendig lernen. Jedes hatte ein eigenes Zeichen. Das Muster, dem die Zeichen folgten, konnte man erst erkennen, wenn man fast alle gelernt hatte.
Strell stieß laut den Atem aus, wischte die Zeichen weg und warf den Zweig in die Flammen. Langsam fing er an zu brennen. »Du hast mir gar nicht gesagt, wie du an diesen Zettel gekommen bist.«
»Äh«, stammelte sie verlegen, von seiner Frage überrumpelt. Die Antwort würde Strell nicht gefallen. »Bailic hat mich hereingebeten«, nuschelte sie in ihren Becher.
»Und du bist eingetreten?«, rief er. »Was ist mit diesem Bann auf seiner Schwelle?«
Oh, dachte sie. Sie hatte ganz vergessen, dass sie ihm auch davon erzählt hatte, und nein, das war keine gute Idee gewesen, doch statt das zuzugeben, runzelte sie die Stirn und erwiderte knapp: »Ich habe es überlebt.«
Vollkommen fassungslos versuchte Strell, die Sprache wiederzufinden. »Überlebt?«, brachte er schließlich heraus. »Du hast es überlebt! Alissa, hast du überhaupt eine Ahnung, wie gefährlich das war?«
Ihre Wangen wurden heiß, und sie wich seinem Blick aus. »Mir geht es gut, Strell. Er interessiert sich nicht für mich. Ich war nicht in Gefahr. Bailic macht mir keine Angst mehr.«
»Das ist es ja, was mir solche Sorgen macht!« Strell wich vor ihr zurück. »Du solltest halb wahnsinnig sein vor Angst!« Frustriert schüttelte er die erhobenen Fäuste und versuchte, die passenden Worte zu finden. »Bei den
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