Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Wölfen, Alissa. Was ist mit dir geschehen? Du bist nicht mehr dieselbe. Nichts kümmert dich mehr!«
»Das liegt daran, dass ich tatsächlich nicht mehr dieselbe bin!«, schrie sie plötzlich, und ihr ganzer Kummer brach aus ihr heraus. »Meine Pfade sind weg! Es ist nichts mehr da! Ich bin völlig wertlos! Ich habe alles weggeworfen.« Ihr stockte der Atem, als sie es endlich laut ausgesprochen hatte. Es stimmte. Sie war wertlos, und das nur aufgrund ihrer eigenen Dummheit.
Sie wandte sich von ihm ab. Plötzlich war die Nacht sehr still. Alissa biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu weinen, doch heiße Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte alles weggeworfen. Alles.
Neben ihr rutschte Strell unbehaglich hin und her. »Alissa?«, sagte er leise. »Du bist nicht wertlos. Vielleicht war es besser so.«
»Besser so!«, rief sie und kämpfte darum, nicht laut zu schluchzen. Sie blickte zu ihm auf, und ihr Kummer wurde ein wenig von dem hoffnungsvollen Ausdruck in Strells Augen gemildert.
»Jetzt«, sagte er und senkte den Blick, »kannst du mit mir an die Küste gehen. Du musst keine Bewahrerin werden. Du kannst alles sein, was du willst.«
Die Nacht schien innezuhalten, als sie so dicht beieinandersaßen und ein unbenanntes Gefühl knapp innerhalb ihrer Reichweite sie umtanzte. Wild und hitzig und gefährlich – und richtig. Er hob den Blick, und Alissa stockte der Atem. Seine Augen glühten dunkel und enthielten einen Hauch von etwas, das sie noch nie gesehen hatte. Und doch schien es so, als sei es schon lange dort gewesen und hätte sich nur ängstlich versteckt, um nicht erkannt zu werden.
Und dann sank mit einem erschreckenden Knall von Harz ein Ast im Feuer zu Boden, und sie wandten sich ab und interessierten sich auf einmal sehr für ihre Becher.
Wie durch stumme Übereinkunft war diese Diskussion beendet. Alissa beschäftigte sich mit ihren Decken. Strell war still und nachdenklich, stocherte im Feuer herum und wich ihrem Blick aus. Dann nahm er ihre Flöte und erzeugte leise Töne, zu wenig zusammenhängend, um sie als Melodie zu bezeichnen. Allmählich wurde das Schweigen wieder gesellig. Alissa lehnte sich zurück. Sie wollte noch nicht gehen, konnte aber die ganze Zeit nur daran denken, was vielleicht geschehen wäre, wenn der Ast nicht geknallt hätte. Ihr Herz machte einen Satz. Dieser Blick, mit dem er sie angesehen hatte, der hätte zu – zu sonst was führen können.
Erleichtert zog Alissa die Beine unter sich und sah zu, wie die wenigen Sterne ihre majestätische Bahn über den Himmel zogen. Langsam stieg der Nebel auf und kroch an den Mauern des Gartens empor. Strell ging zu einem Schlaflied über – nicht ihr Lieblingslied, aber trotzdem schön –, und obwohl sie sich bemühte, wach zu bleiben, schlief sie ein. Zumindest glaubte sie das, denn als sie wieder hinsah, waren die Sterne ein Stück weitergewandert, und das Feuer war beinahe heruntergebrannt. Die sterbende Glut glomm und erhellte kaum mehr ihr festliches Lager. Kralle hatte sie gefunden und funkelte Alissa von einem nahen Busch herab an.
Alissa riss die Augen auf, als sie bemerkte, dass ihr Kopf an Strells Schulter ruhte. Aber sie hatte es sehr behaglich hier und rührte sich nicht. Allerdings fragte sie sich schläfrig, wie er zu ihrem Kissen geworden war. Sie konnte seinen Herzschlag hören und das sanfte Ein und Aus seines Atems. Der Duft von heißem Sand und heller Sonne erfüllte ihre Sinne, warm und sicher. Sie stellte sich schlafend und sah zu, wie der Nebel höher stieg und die Nacht verdunkelte. Ein Seufzen kam über ihre Lippen, ehe sie sich daran erinnerte, dass sie ja angeblich schlief. Verärgert über sich selbst, zuckte sie leicht zusammen und regte sich, damit er glaubte, sie sei gerade erst wach geworden. Lächelnd blickte Alissa in Strells zufrieden wirkende Augen auf.
Er grinste. »Machen wir für heute Schluss?«
Sie nickte, zu verlegen, um mehr zu sagen, weil er ihre Täuschung durchschaut hatte. Widerstrebend standen sie auf. Sie ließen alles bis auf die Decken liegen und folgten langsam dem gewundenen Pfad durch den stillen, schlafenden Garten. Der Nebel war dick und dämpfte ihre Schritte wie ein grauer Kokon.
Es war ein sehr angenehmer Abend gewesen.
– 37 –
S trell zog den geflochtenen Talisman zusammen, überprüfte den letzten Knoten und schnitt die überstehenden seidigen Haare ab. »So«, sagte er, »das müsste genügen.« Er lächelte erfreut und begutachtete den
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